: Der Gewinner
Familie: Thorsten Schäfer-Gümbel, 39 Jahre alt, ist in der Gießener Nordstadt groß geworden. Vater Lkw-Fahrer, Mutter Hausfrau und Putzhilfe. Das älteste Kind der Familie machte einen Magister in Politologie; seine drei jüngeren Geschwister gingen nicht aufs Gymnasium. Seine Frau Annette Gümbel ist promovierte Historikerin. Sie arbeitete bis zur Geburt des dritten Kindes für die evangelische Kirche. Inzwischen ist sie bei einem SPD-Bundestagsabgeordneten teilzeitangestellt. Die Familie wohnt im Dorf Birklar bei Lich, nahe Gießen.
Parteifamilie: Mit sechzehn Jahren Eintritt in die SPD. Jusos, Hochschulgruppe, Pressearbeit für die Gießener Rathausfraktion. Gehört zur Parteilinken. Credo: „Ich bin nicht streitlustig, aber ich bin konfliktfähig.“ Seit 2004 Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Gießen, seit 2001 Vizechef der SPD Hessen-Süd. 2003 Einzug in den Landtag. Vor seiner Nominierung zum Spitzenkandidaten am 8. November 2008: kein Führungsjob in der Landtagsfraktion und nach deren Angaben nicht mal im Notizbuch von Franz Müntefering. LÖW
Thorsten Schäfer-Gümbel soll das Unmögliche schaffen: seine hessische SPD vor dem Desaster bewahren. In wenigen Stunden wird abgerechnet. Der Kandidat, der von ganz unten kommt, kann nicht mehr verlieren. Ein Porträt
VON GEORG LÖWISCH
Als er aufwacht, kann er nicht mehr sehen. Er hört, riecht, schmeckt, tastet. Doch das Augenlicht ist fort. Er liegt in einem Klinikbett, es ist erst einige Stunden her, da hat ihm der Augenarzt gesagt, dass sich seine Netzhaut ablöse. „Ich kann sofort einen Krankenwagen rufen. Oder Sie holen noch Ihre Sachen.“
Nach drei Wochen hat Thorsten Schäfer-Gümbel wieder sehen können, er war damals zwanzig Jahre alt. Aus bestimmten Blickwinkeln sieht er bis heute schlechter. Er muss genauer hinsehen. Das ist eine Stärke.
Es ist ein eisiger Tag, aber die Mittagssonne scheint. Der hessische SPD-Spitzenkandidat Schäfer-Gümbel steht in einer Blechhalle des Flugplatzes Kassel-Calden. Er legt den Kopf schief, um besser sehen zu können. Seine Augen wirken ruhig. Sein Blick wandert. Zu der schmalen, weißen Düsenmaschine, die vor der Glastür parkt, über die Köpfe der Lokalpolitiker hinüber zum gebräunten Gesicht des Flugplatzchefs. Er beginnt zu reden, macht das Ausbauprojekt groß, die Grünen klein und die Lufthansa böse. Er könnte noch viel länger Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Seine Erscheinung hat Wucht, ein Meter dreiundneunzig ist er groß, sein Gewicht gibt ihm Stand. Er sagt: „Jetzt würde ich gern wissen, wo wir stehen.“ Er verschränkt die Hände hinterm Rücken und nimmt die Bilder in sich auf. „Ich freue mich an den Farben“, sagt er später. „Ich schaue gern hin und genau.“
Eigentlich ist er derjenige, der Bilder produzieren muss. Schäfer-Gümbel in Calden, Schäfer-Gümbel in der Fußgängerzone, Schäfer-Gümbel irgendwo. Morgenmagazin, Altenhilfe, Autofabrik, Parteiabend. Zehn Wochen hat er versucht, aus jedem Tag das Maximum herauszuholen.
Am Abend des 18. Januar wird ausgezählt. Am Wahlabend.
Das SPD-Ergebnis droht katastrophal zu werden. Historisch schlecht. Aber schaut man sich die Geschichte des Kandidaten an, kann man feststellen: Gewonnen hat er schon jetzt. Politisch.
Und persönlich. Thorsten Schäfer-Gümbel ist 1969 in Oberstdorf im Allgäu auf die Welt gekommen. Sein Vater war dort Zeitsoldat, fünf Jahre später ging er mit der Familie in seine Heimatstadt zurück, nach Gießen. Von hier fuhr Rolf Schäfer Lkw-Touren nach Frankreich und England. Die Mutter, strenge Katholikin, arbeitete als Putzfrau, betreute die Kinder.
Nach Thorsten kamen eine Schwester und zwei Brüder. Die Familie hatte fünfundsiebzig Quadratmeter, und die drei Jungs teilten sich ein Zimmer mit neun Quadratmetern. Geld war knapp. Waren die Eltern weg, trug Thorsten die Verantwortung. Es gab auch Zeiten, da dauerte es lange, bis sie zurück waren. Damals muss er gelernt haben, etwas zu schultern. Aber einem Jungen, der irgendwie die Eltern zu ersetzen hat, geht auch etwas verloren. Dass er einfach so in den Tag hineinleben kann, vermag man sich nur schwer vorzustellen, wenn man ihn im Wahlkampf arbeiten sieht.
Sie wohnten in der Gießener Nordstadt. Asterweg 64, ein Siedlungsbau aus den Nachkriegszeit. Die Gegend heißt Flussstraßenviertel, nach Fulda und Werra benannte Wege. Vor dem Edekaladen saßen die Trinker, dahinter lag eine Kneipe, das alle „Café zur letzten Träne“ nannten, weil es, wenn man vom Friedhof kam, der nächstgelegene Ort war, um eine Beerdigung zu begießen. Die Jugendlichen konnten sich in einer Baubaracke treffen, die „Holzwurm“ hieß, weil sie von unten verfaulte.
Hört sich das nicht alles ziemlich dicke an? Nach Szenen eines verheulten ZDF-Dokudramas, das die Siebziger und Achtziger zu erhellen hofft?
Wenn man sich das Flussstraßenviertel von einem wie Gerhard Merz zeigen lässt, kommt man von dieser Fantasie schnell weg. Merz beschäftigt sich professionell schon lange mit Armut. Er war Sozialdezernent, und während er durch das Viertel stapft, erzählt er. Das Wort „sozialer Brennpunkt“ benutzt er kein einziges Mal. Er sagt kühl „Krümelecken“. Merz und Schäfer-Gümbel sind Freunde, der eine ein Bauernsohn, der andere aus dem Flussstraßenviertel.
Als Thorsten Schäfer-Gümbel ein Junge war, ging er gern kicken. Die Brille, die er seit dem sechsten Lebensjahr trug, störte nicht. Zur Schule musste er nur den Asterweg entlang, über die Sudetenlandstraße, geradeaus, dann links. Die Sudetenlandstraße führt aus dem Quartier raus, ein Bahndamm markiert die Grenze. Wo das Flussstraßenviertel endet, beginnt das Leben von Familien in Eigenheimen. Die meisten Jugendlichen von dort durften auf der Landgraf-Ludwig-Schule den Gymnasialzweig nehmen. Thorsten Schäfer stammte von der falschen Seite des Bahndamms. Nach der sechsten Klasse fand sich einer wie er auf der Realschule wieder. Einer seiner Lehrer hatte ihn jedoch nicht aus dem Blick verloren. Nach acht Wochen durfte Thorsten Schäfer aufs Gymnasium springen.
Im Wahlkampf hat er diese Wendung in seinen Reden gern erwähnt. Mal stand Außenminister Steinmeier mit ernstem Gesicht daneben; mal warf Parteichef Müntefering vom Podium einen kurzen Blick zu den Presseplätzen. Kommt diese Story an?
Ist die Geschichte vom Sozialdemokraten aus kleinen Verhältnissen nicht etwas abgenutzt? Schäfer-Gümbel sagt: „Wenn man die Geschichte erfindet, ist das ganz sicher so. Ich erfinde sie nicht, es ist meine Geschichte. Ich benutze sie nur als Begründung, dass ich kein Theoretiker bin, sondern weiß, was los ist.“
Drei Sätze, fast wütend diktiert. So, als hätten alle anderen wenig Ahnung von der Wirklichkeit.
Vielleicht ist das so. Wie viele einflussreiche Sozialdemokraten seiner Generation kommen wirklich von unten? Bergleute mit verschmierten Gesichtern, Verkäuferinnen mit Kittelschürze, Autoschrauber mit öligen Händen, Altenpflegerinnen mit Augenringen. Die haben in der SPD nichts zu sagen. Schäfer-Gümbel, das könnte sein Schlüssel zum Erfolg werden, führt die SPD zurück zu ihrem Ursprung.
Die Eltern waren skeptisch, als der Lehrer sie ansprach. Niemand aus der Familie war je auf einer höheren Schule. Sein Vater sagt nur knapp: „Wenn du das tust, beißt du dich da aber auch durch.“
Helge Braun ist Chef des CDU-Kreisverbandes Gießen, er kennt Schäfer-Gümbel lange. Drei Jahre jünger als der Sozialdemokrat, kommt er von der anderen Seite des Bahndamms. Abitur, Anästhesist. Braun sagt, der SPD-Spitzenkandidat sei nicht der Typ, der Glanzlichter setze. Er stellt fest: „Er war schon immer fleißig und unheimlich ehrgeizig. Dass er sein Engagement aus seiner Vita heraus definiert, nehme ich ihm ab.“
„Er hat Biss“, findet auch Udo Bullmann. Ein Freund von Schäfer-Gümbel, sie kennen sich aus Jusozeiten. Bullmann, heute Europaabgeordneter, sagt: „Thorsten hat gesehen, dass man aus einem harten Umfeld kommen und trotzdem etwas erreichen kann.“
Nach der Schule war Schäfer-Gümbel sicher, Entwicklungshelfer werden zu können. Agrarwissenschaften an der Universität Gießen passten. Dann kam es zu seinem Augenleiden. Die Operation gelang, aber die Augen müssen stetig kontrolliert werden.
Er änderte seine Pläne, pragmatisch. Politikwissenschaft lag nahe. Er ist schon mit sechzehn Jahren in die SPD eingetreten, weil ihm die Schulpolitik der Union missfiel. Er schaffte es ins Stipendienprogramm der Friedrich-Ebert-Stiftung. Mit 26 Jahren hatte er den Magister in der Tasche. Mit Auszeichnung.
Inzwischen wohnte er in der Weststadt. Es fügte sich, dass er an einem Nachmittag auf seinem Balkon mit einem Bekannten beim Kaffee saß und der ihm einen Job anbot. Es war Gerhard Merz. Annette Gümbel, Schäfers Freundin, erwartete ein Kind. Sie heirateten, er nahm ihren Namen an.
Merz sollte im Herbst 1997 das Sozialdezernat in Gießen übernehmen, und er suchte einen Mitarbeiter. Er wusste, dass Schäfer-Gümbel aus der Nordstadt stammt. Genau dort hatte Merz etwas vor. In der Nordstadt hatte die Arbeitslosenquote die Zwanzigprozentmarke erreicht. Ähnlich hoch war der Stimmenanteil der Republikaner bei den Kommunalwahlen 1993. Wer es sich leisten konnte, zog weg.
„Ich wollte verhindern, dass das Viertel kippt“, sagt Gerhard Merz. „Das war viel Arbeit, und ich wusste: Der Thorsten kann dir eine Wand umschieben.“
Die Aufgabe gefiel Schäfer-Gümbel. Eine Vision zum Anfassen. Und wie hätte er auch anders reagieren sollen, als Ja zu sagen? Es war doch sein Viertel, das da am Kippen war.
Er verhandelte mit der Wohnungsbaugesellschaft über Sanierungen. Organisierte Aktionen, bei denen der Müll in den Hecken und auf den Spielplätzen aufgeklaubt wurde. Aus dem „Café zur letzten Träne“ wurde das Nordstadtbüro, und die Jugendlichen zogen aus dem „Holzwurm“ in ein richtiges Haus. Er kümmerte sich um einen neuen Bolzplatz, beruhigte misstrauische Nachbarn, die Lärm fürchteten. Er trieb Geld auf und ging abends zu Versammlungen. Nicht alles klappte, aber wenn, waren die Ergebnisse greifbar.
Für die SPD zahlte sich dies nicht aus. Schäfer-Gümbel und Merz gelang es nicht, ihr Engagement 2001 bei der Kommunalwahl in Stimmen umzumünzen. Die CDU gewann, das rot-grüne Bündnis im Rathaus wurde abgelöst. Merz musste sein Dezernat abgeben, Schäfer-Gümbel verließ etwas später die Stadtverwaltung. Seine Frau bekam das zweite Kind, die Familie zog in ein Häuschen in Birklar, einem Dorf südöstlich von Gießen.
Er wurde Berufspolitiker. Im Wiesbadener Landtag vertrat er Gießens Umland. Zu den Stars der Fraktion stiegen Andrea Ypsilanti und Jürgen Walter auf. Vielleicht war Schäfer-Gümbel das recht, weil er sich den Betrieb sorgfältig anschauen konnte. Er stellte parlamentarische Anfragen, speicherte Wissen. Er guckte genau hin, aber ein Hingucker wurde er nicht. Gerhard Merz fand, dass sein ehrgeiziger Freund gebremst wirkte. „Wie ein Dampfer in Sirup.“
Bis der wieder in Fahrt kam, sollte es bis zum Januar 2008 dauern. Landtagswahlkampf in Hessen, erste Runde. Es würde knapp werden, und Schäfer-Gümbel lief, typisch, auf hohen Touren. Familie stützen, Quartier retten, Partei voranbringen. Für die eigenen, gegen die anderen. So setzt er sich gern unter Dampf, aber manchmal scheint er den Kurs nicht mehr berechnen zu können.
Ypsilanti schloss damals ein Bündnis mit der Linken aus. Schäfer-Gümbel ging noch weiter. Mit Merz schaltete er eine Zeitungsanzeige, in der sie den CDU-Kandidaten angriffen. „Es wird auch nach der Landtagswahl keinerlei Bündnis mit der Partei Die Linke geben. Es ist infam, die SPD als Steigbügelhalter des Kommunismus zu diffamieren.“
Im Oktober 2008 einigen sich SPD und Grüne auf ein Bündnis. Im Paket enthalten: Die Linke wird die Regierung stützen. Ypsilanti will nur ihre engsten Vertrauten mit ins Kabinett nehmen. Als Chef der Landtagsfraktion sucht sie zunächst Schäfer-Gümbel aus. Doch die Parteirechten sind mit ihren Ministerposten unzufrieden, Ypsilanti rochiert noch mal, ihr Berater Gernot Grumbach macht im Kabinett Platz, möchte aber dafür Fraktionschef werden. Schäfer-Gümbel wird nach hinten geschoben.
Die Regierungspläne platzen. Drei SPD-Abgeordnete ausgestiegen, Parlament aufgelöst, die SPD kocht. Die Wut konzentriert sich auf die drei Abtrünnigen, so kann sich Ypsilanti als Parteichefin halten. Nur auf die Spitzenkandidatur verzichtet sie, ein Neuer muss her.
Es ist nicht ganz sicher, wer Schäfer-Gümbel zuerst ins Spiel um die Spitzenkandidatur gebracht hat. „Es war Andrea Ypsilantis Idee“, sagt ihr Vertrauter Hermann Scheer. Schäfer-Gümbel schweigt dazu. Er sagt nur, dass er viele Stunden vor allen anderen wusste, dass er im Gespräch war. Es hört sich nach einer lang ersehnten Chance an.
Er spricht mit Freunden, mit seiner Frau. Samstag trifft er einige Parteiobere zum Frühstück. Er sagt zu, es ist der 8. November kurz vor neun Uhr.
Der Dampfer Thorsten Schäfer-Gümbel darf endlich auslaufen.
Mittags steht er vor der Presse. Seine Hände liegen auf dem Pult, vor ihm knien die Fotografen und nehmen von unten auf, wie er den Kopf schief legt.
Abends im „heute journal“ lächelt der ZDF-Moderator Claus Kleber in die Kamera. „Es gibt einen neuen Kopf“, sagt er mit dem Blick des Zirkusdirektors, der eine Lachnummer ankündigt. Thorsten Schäfer-Gümbel heiße der Neue. „Unverbraucht, weil unbekannt.“
Schäfer-Gümbel wird zugeschaltet. Er steht im Freien, aber die Haare kleben auf seiner Stirn, die Brille spiegelt das Scheinwerferlicht. Als Kleber die erste Frage stellt, schluckt er. Ob man sich seine und Ypsilantis Arbeitsteilung so vorstellen könne wie die in Russland, fragt Kleber. So wie bei Putin und Medwedjew. „Ein relativ unbekannter Blasser wird aufgestellt, weil der eigentlich Mächtige eine Runde aussetzen muss.“
Schäfer-Gümbel erwidert: „Wenn es so wäre, würden wir ja die Präsidentschaftswahlen auf jeden Fall gewinnen. Das ist eine Mannschaftsaufstellung, mit der ich heute Abend gut leben kann.“ Kleber setzt nach. Ob er sich je mit etwas anderem beschäftigt habe als der Betriebsprüfung von Eintracht 05 Wetzlar. Oder den Radwegen in Gießen. „Haben wir da etwas übersehen?“
Er wurde verrissen. Politiker und Journalisten zogen seinen Namen durch den Kakao. Dümpel, Pümpel, Simpel. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fand einen Optikermeister, der sich per Ferndiagnose seinen Augen widmete. Erst müsse man ihn mal um fünf Dioptrien runterlasern. Danach bitte dringend die Brille austauschen, sonst kämen ja achtzig Prozent Untergesicht heraus. „Mit so einer schmalen Denkbeule obendrauf.“
Sein Freund Udo Bullmann glaubt, dass manches von dem Hohn sogar Ekel in Schäfer-Gümbel auslöste. „Das stachelt aber den Rebellen in ihm an, der mal schaut, ob nicht doch er derjenige ist, der am Ende obenauf ist.“
Irgendwann waren die Witze über ihn aufgebraucht. Es mag ihm geholfen haben, dass er ein wenig mitzulachen bereit war. Er kann über sich lachen. Als er bei einem Mittagessen gerade erzählt hat, dass er eigentlich alles isst außer Sauerkraut, kommt die Kellnerin und verkündet das Tagesgericht: Bratwurst mit Sauerkraut. Sein Lachen platzt heraus, es ist ein angenehm offenes, lautes Lachen, der große Körper wiegt dabei hin und her, und am Ende sieht der Mann erfrischt aus.
Die Berichte machten ihn bekannt. „Überraschung erzeugt Neugier“, sagt er, „und Neugier erzeugt Gespräch.“
Neue Brille, Superman-T-Shirt, TSG-Anstecker. Der Fahrer war sogar Wettkönig bei Gottschalk! Erzählte der Pressesprecher den Journalisten. Aber Schäfer-Gümbel musste aufpassen. Er durfte sich weder zu ernst nehmen, noch durfte er Witzfigur werden.
Er nahm Säle für sich ein mit seinen Reden. Manchmal gerieten sie zu lang, aber die Sätze waren präzis genug. Er stand etwas breitbeinig da, der Körper spannte sich, und wenn er etwas betonen wollte, presste er die Spitzen von Daumen und Zeigefinger zusammen. Er leitete Lagebesprechungen, verlangte Informationen, büffelte Vorlagen im Auto. Die Leute wunderten sich, wie sicher der Neuling in die Situation hineinwuchs. Doch eigentlich war er ganz bei sich, Ältestes von vier Kindern, die im Asterweg 64 auf ihre Eltern warten.
Zur Feier seiner Kandidatur lud er Freunde ein. „Na, Mensch, Thorsten, ist ja nicht so schlimm, wenn es nicht gleich beim ersten Mal klappt“, sagte eine Bekannte zu ihm. Davon wollte er nichts hören.
Udo Bullmann sagt, sein Freund empfinde so: „Ich werde Ministerpräsident – das wird gelebt, in jeder Phase. Es gibt das Technische, die Umfragen und das Kalkulieren, aber letztlich muss das in den Hintergrund, sonst könnte er so einen Wahlkampf nicht durchstehen.“
Schäfer-Gümbel versucht ernsthaft, die SPD zusammenzuhalten. Er hat eine solidarische Gesellschaft im Kopf, Dörfer und Stadtviertel, in denen alle mitbestimmen können und die Gemeinschaft verhindert, dass es für Schwache nicht reicht. Er steht links. Als Juso hat er gedroht, einen Hund zu vergiften, um auf die Abschiebung von Kurden aufmerksam zu machen. Aber er kann mit den Parteirechten. Er hört ihnen zu.
Vielleicht haben ihm die Strucks und Münteferings deshalb die Reparatur dieses Landesverbandes so schnell zugetraut. Weil er verbinden kann. Natürlich haben sie auch auf ihn gesetzt, weil sie Ypsilanti weghaben wollen. Wie schnell werden sich die anderen auf ihn einstellen? Die, denen Ypsilanti als Testperson für Rot-Rot-Grün gerade recht kam?
Er kennt die SPD, mit all ihren Strömungen. Die Mikroebenen. Er hat als Student in einer Gruppe mitgemacht, die „Butzbacher Kängurus“ hieß, und als Unterbezirkschef in Gießen den konservativen „Lützellindener Kreis“ mitnehmen müssen. Er lebt seit über zwanzig Jahren in dieser Partei. Bei den Jusos nannten ihn einige „Bruder Thorsten“, weil er oft Streit schlichtete.
Einschüchtern kann er allerdings auch. Mitte Dezember auf dem SPD-Landesparteitag in Alsfeld soll er zur Nummer eins der Wahlliste bestimmt werden und Ypsilanti zur Nummer zwei. Alles ist einigermaßen stabil vor dem Parteitag, bis eine Frau ankündigt, gegen Ypsilanti anzutreten. Sie heißt Astrid Starke. Streit droht, die eilig errechnete Statik einer Partei in der Krise wackelt. Doch als Starke auf dem Parteitag ihre Bewerbung begründet, wirkt sie furchtsam, gespenstisch kleinlaut. Schäfer-Gümbel habe sie angerufen. Sie sagt: „Ihr könnt Andrea wählen, ihr könnt Astrid Starke wählen, ihr könnt euch aber auch enthalten.“
Fragte man Starke Tage später, was denn bloß los gewesen sei, sagte sie. „Ich gebe der Presse keinen Kommentar. Zu nichts.“ Wenn man Schäfer-Gümbel darauf anspricht, ob sein Anruf bei Starke ein Moment gewesen sei, in dem er Härte gezeigt habe, betrachtet er einen eine Sekunde. Er löst den Blick und nickt.
Es könnte sein, dass Sozialdemokraten in der Hauptstadt die Fähigkeit zum Einschüchtern für eine Qualität halten.
Der Wahlkampf läuft. Die Fotografen zeigen ihn nun meist günstig. Zehn Kilo abgenommen, die Haare in Fasson.
Er redet lieber über die Abwanderung aus den Dörfern als über Willy Brandt. Er nennt Roland Koch ein „No-go“, einen Neoliberalen, der hetze, wann es ihm nützlich scheint. Aber in einer ruhigen Minute sagt er auch: „Koch ist kein Monster, und ich bin kein Heiland. Das wäre auch eine schlechte Struktur.“
Er nimmt einen Chefredakteur zum Vieraugengespräch beiseite, bezirzt Mittelständler, erzählt Managern, wie gut sein Verhältnis zu FDP-Politikern ist. An der Ecke Asterweg/Sudetenlandstraße steht ein Plakat, auf dem sich Thorsten Schäfer-Gümbel vorstellt. Er lächelt auf diesem Bild, er hat gewonnen.
„Wahlkampf macht Spaß“, ruft er auf einer Kundgebung. Neun Wochen nach dem Start kennen ihn fünfundfünfzig Prozent der Hessen. In Umfragen liegt sein Sympathiewert vor dem der SPD.
Fragt man ihn, was ihm mehr gefalle, dieser Wahlkampf oder die Arbeit in der Gießener Nordstadt früher, schaut er verdutzt, als wär’s eine Deppenfrage. „Das war damals super, das war toll. Da habe ich viel bewegen können.“ In der Nordstadt haben sie die Vermarktung ihrer Erfolge verpennt, nun ist es reine Vermarktung.
Aber er bewegt jetzt auch etwas. Sich.
Er kämpft. 18. Januar, 18 Uhr, dann kann er schauen, was kommt. Man wird sein Ergebnis natürlich an den guten alten Ergebnissen der hessischen SPD messen. Unter neunundzwanzig Prozent wäre ein Rekord. Historisch schlecht. Aber da sind noch die Umfragewerte der Bundespartei: auch schlecht. Die miesen Startbedingungen. Die kurze Zeit. Wenn sich Ypsilanti an ihr Versprechen hält, Verantwortung für die Niederlage zu übernehmen, ist er dran. Er will Chef eines der größten SPD-Landesverbände werden. Er ist erst neununddreißig.
Er hat nach seiner Nominierung angefangen, ein privates Tagebuch zu schreiben. Das hat er noch nie gemacht. Er will die Dinge nun festhalten. Er will sich im Blick behalten.
GEORG LÖWISCH, Jahrgang 1974, ist Reporter im taz-Inlandsressort. Allmählich mag der Südbadener Hessen, vor allem den Norden