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Archiv-Artikel

Der Gefangene

Heute klagt ein Ex-Stasi-Offizier: „Es ist eine einseitige, verbitterte Jagd, die von Hollitzer ausgeht“

AUS LEIPZIG GEORG LÖWISCH

Es sind Momente wie dieser: Er kam abends nach Hause, und die Eimer mit den Ofenkohlen waren beiseite geräumt, obwohl er sie ganz sicher mitten im Flur abgestellt hatte. Oder 1989, als er im besetzten Hauptquartier der Staatssicherheit vor einer Gruppe Offiziere stand und einer aus dem Hintergrund Details über ihn rief, die eigentlich niemand kennen konnte. Oder auch nach der Wende, als er ins Taxi stieg, den Fahrer erkannte und sich während der Fahrt fragte, was der ehemalige Stasi-Mann über ihn wissen mochte. Solche Situationen schüchtern ihn ein, denn er kann sie nicht durchschauen.

Tobias Hollitzer ist 38 Jahre alt, vor genau 15 Jahren war er einer der Demonstranten, die die Leipziger Gebäude der Stasi besetzten, um die DDR von ihrem Geheimdienst zu befreien. Hollitzer ist geblieben. Fünfzehn Jahre, in denen er die Stasi durchdrungen hat, um ihre Rätsel zu lösen. Er tut es, damit die Menschen wissen, was so einer Überwachungsorganisation alles einfällt. Er tut wenig anderes. Er wirkt wie ein Befreier, der eine Festung genommen hat, sich noch kurz ein wenig umschauen wollte und nicht bemerkte, wie das Tor zufiel. Ein Sieger, aber doch ein Gefangener.

Er sitzt in der ehemaligen Leipziger Stasi-Zentrale. Dort ist jetzt die Außenstelle der Behörde für die Unterlagen der Staatssicherheit untergebracht, früher hieß sie Gauck-Behörde nach ihrem ersten Chef. Hollitzer ist Sachgebietsleiter. Er hat ein schmales, langweiliges Zimmer mit Metallschränken. Draußen auf den Leipziger Straßen ist es nass, auf dem Flur hat jemand Matsch hinterlassen. Eigentlich ein jämmerlicher Nachmittag. Aber Hollitzer wirkt aufgekratzt wie an einem Sommermorgen. Er gestikuliert, dass sein Drehstuhl federt, und wenn er eine Pointe gesetzt hat, grinst er spöttisch. Wenn er etwas Trauriges erzählt, sackt er zusammen, und das Gesicht leidet mit. Er brennt für seine Sache.

Hollitzer sagt, dass er elektrisiert war am 4. Dezember 1989. Plötzlich sah er das Innere des Geheimdienstes, der den Menschen ein so diffuses Angstgefühl vermittelt hatte. Man dachte sich, dass die Post abgefangen und das Telefon abgehört wurde. Wenn Hollitzer als Kind bei seinem Großvater, einem Superintendenten, im Amtszimmer spielte, konnte er zuhören, wie sich der Kirchenmann mit einem Amtsbruder am Telefon über die „mithörenden Genossen“ lustig machte. Aber nun fand er die Postsäcke in den Räumen, sah die Briefe, las die Adressen auf den Umschlägen. Er überraschte Stasi-Männer dabei, wie sie vor ihren Tischen standen und Akten zerrupften.

Hollitzer schildert es so lebendig, als zirkuliere das Adrenalin von damals wieder in seinem Körper. Es macht Spaß zuzusehen, wenn er mimt, wie er damals im Grassimuseum für Kunsthandwerk anrief, wo er als Ausstellungstischler arbeitete und verkündete: „Ja, ich bin jetzt hier gerade bei der Stasi und notfalls nehm ich Urlaub.“ Man sieht ihn vor sich, wie er in den Tagen danach mit den Stasi-Leuten und Staatsanwälten um jeden Schlüssel feilschte. Und er flüstert, wie der Offizier geflüstert haben muss: „Herr Hollitzer, der Raum hier enthält das Geheimste des Geheimen.“ Darin waren die wichtigsten Karteien und rund 200 Maschinenpistolen, und Hollitzer beschreibt, wie er darauf drängte, sie kurz vor der nächsten Montagsdemo in Sicherheit zu bringen.

Als Hollitzer zum ersten Mal in die Leipziger Stasi-Zentrale kam, begannen für Manfred Bols die letzten Arbeitstage. Er war Oberstleutnant in der Aufklärungsabteilung. Nach der Wende fand Bols eine Stelle als Hausmeister in einem städtischen Kindergarten, aber 1992 wurde er wegen seiner Vergangenheit entlassen. Bols ist 63 Jahre alt, er hat einen gemütlichen sächsischen Dialekt. Am Telefon erklärt er, dass die Vergangenheit aufgearbeitet sei und dass die Stasi-Unterlagen-Behörde zu viel Geld verbrauche. „Es ist eine einseitige, verbitterte Jagd, die von Hollitzer und seinen Leuten ausgeht.“

Solche Äußerungen können Hollitzer nicht treffen. Er sagt: „Ich will wissen, wie es wirklich war. Nicht nur für mich. Es geht darum, sich dieses Wissen zurückzuholen. Nur wenn man weiß, was passiert ist, kann man sich entscheiden, wie viel Überwachung man will.“

Er hat zu viel darüber gelesen, was die Stasi getan hat. Er hat tausende von Aktenseiten durchgearbeitet, hat gelernt, wie die Karteien aufgebaut sind und was welcher Stempel bedeutet. Er kennt die Kürzel der Offiziere und von vielen die Handschrift. Sein Bild hat er mit Unterlagen der SED und der DDR-Bürokratie ergänzt. Er hat die Akten über Inoffizielle Mitarbeiter und Zielpersonen eines Stasibeamten nebeneinander gelegt und versucht, das Empfinden zu erspüren, das der Beamte für seinen Bereich entwickelt hat. Er hat geschuftet, als könnte er dadurch der Stasi alle privaten Geheimnisse wieder wegnehmen, die sie den DDR-Bürgern geraubt hat.

Hollitzer sagt, dass ihm Freunde immer wieder geraten haben, Tobias, so viel Stasi, das erträgst du nicht, du musst aufpassen. Aber er habe ein gesundes Verhältnis zu den Akten, jede Akteneinsicht erfülle ja einen bestimmten Zweck. Er zögert. „Sie beschäftigen mich auf der anderen Seite schon als Einzelfälle.“

Ein Eisenbahnunglück ist da aus den 50er Jahren, der Akte liegen über 50 Totenscheine bei. Eine Sammelakte über Umsiedlungen aus dem Grenzgebiet, ein Wirt, der Westradio hört, muss aus seinem Heimatdorf ins Landesinnere umziehen. Ein IM, der 1989 vom Führungsoffizier verlangt, dass der vor seinen Augen die Verpflichtungserklärung zerreißt, die dann wieder zusammengepuzzelt der Akte angefügt ist. Ein Tagebauunglück, das Foto eines zerquetschten Baggerführers, darunter hat ein Stasibeamter getippt: „Foto des Geschädigten.“

Dann eine psychisch kranke Krankenschwester, die Säuglinge tötete. Ihr wurde ein Geheimprozess gemacht, kranke Krankenschwestern durfte es in der DDR nicht geben. Es ist der traurigste Fall, die Akte ist einen Meter dick, Hollitzer hat sie 1990 zum ersten Mal in der Hand gehabt, der Akte liegen die Obduktionsfotos der Kinder bei. Er zieht das Gesicht zusammen. „Da musst du nach dem Lesen an die frische Luft.“

Er liest immer noch, bearbeitet mit den fünf Mitarbeitern seines Sachgebietes vor allem Anfragen von Forschern, Journalisten und von Opfern, die ihre Wiedergutmachungsansprüche mit den Akten untermauern wollen. Häufig bleibt er bis 20 Uhr in seinem Arbeitszimmer. In den Pausen oder nach der Arbeit trifft er seine Mutter. Sie betreut im selben Gebäude eine Ausstellung über die Stasi. Sie sagt, dass sie oft zehn, zwölf Stunden dort ist. Ihr Sohn führt Besuchergruppen durch die Räume, an falschen Bärten, Waffen und einer Gefängniszelle vorbei. Oder er bereitet Veranstaltungen für einen Verein vor, der aus dem Bürgerkomitee zur Stasi-Auflösung hervorgegangen ist. Er arbeitet gern und viel. Fragt man ihn, was er in seiner Freizeit macht, stockt er verlegen. „Man geht mal spazieren, man fährt mal Fahrrad.“

Wenn er ins Bürgerkomitee hinübergeht, kann er aus der Sachgebietsleiterrolle in die des Bürgerrechtlers schlüpfen. Er kann Pressemitteilungen zum Kohl-Urteil über die Freigabe von Stasiakten formulieren. Er kann seinen obersten Dienstherrn, den Bundesinnenminister Otto Schily, für seine Sicherheitspakete schelten und sagen, dass „der Otto-Katalog teilweise eine Katastrophe ist“.

Damals flüsterte ein Stasi-Offizier: „Herr Hollitzer, der Raum hier enthält das Geheimste des Geheimen“

Hollitzer hat früh gelernt, seine Meinung zu verfechten. Die Eltern melden den Sohn in der ersten Klasse nicht bei den Jungpionieren an. Das ist selten, auch bei Kindern aus kirchlichen Elternhäusern. Tobias ist froh, als die Lehrerin die Mitschüler überzeugt, dass er beim Pionierfasching ausnahmsweise mitmachen kann. Er entschließt sich, gegen alles zu sein, was er für militaristisch hält. Er tritt nicht der FDJ bei, verweigert in der neunten Klasse die vormilitärische Ausbildung. Auch in seiner Gemeinde, der Thomaskirche, sagt er, was er denkt. Als der Pfarrer mit Geld von der Westkirche eine Videoanlage kauft, damit der Organist den Gottesdienst verfolgen kann, erklärt Hollitzer vor der Gemeinde, das Geld solle lieber in die Dritte Welt geschickt werden, wo Kinder verhungerten. Der Pfarrer erteilt ihm Redeverbot.

Ein anderer Pfarrer außerhalb von Leipzig hat eine Umweltgruppe gegründet. Hollitzer macht bei ihm mit. Die Stasi legt eine Akte an. Aber er ist vorsichtig. Als seine Freundin mit einem Gedicht gegen ein sozialistisches Massensportfest protestieren will, lässt er sie nicht seine Schreibmaschine benutzen und sagt ihr, sie solle ihre Schrift verstellen. Sie kleben nachts und sehen am Morgen zu, wie die Männer in Zivil Teile einer beklebten Telefonzelle konfiszieren. Er abonniert das Gesetzblatt der DDR, nimmt es zu staatlichen Stellen mit und beruft sich darauf.

Man kann sich Hollitzer ansehen auf Fernsehbildern aus dem Dezember vor 15 Jahren. Er steht vor einem Staatsanwalt und verlangt, dass Stasi-Räume im größten Leipziger Hotel geöffnet werden. Kein dozierender Zauselbart. Ein aufrechter, hochgewachsener Mann, der sich nicht einschüchtern lässt, obwohl er erst 23 ist. Es gibt auch ein Fernsehinterview von 1999, in dem er als Zeitzeuge auftritt. In beiden Szenen strahlt er viel Gelassenheit aus, seine Silben betont er nicht so heftig, sein Gesichtsausdruck ist nicht so unruhig wie jetzt. Vielleicht ist ihm die Ruhe irgendwo zwischen den Kilometern an Akten verloren gegangen.

Aber Forscher und Journalisten, deren Anträge er betreut, arbeiten gerne mit ihm. Wenn man sie anruft, schwärmen sie von Hollitzer, nennen ihn „akribisch“ und „filigran“. Manchmal ist das Material immer noch so interessant, dass es kleine Erschütterungen gibt, wenn ein IM auffliegt, aber das könnten andere Mitarbeiter der Unterlagenbehörde auch liefern. Hollitzer sucht den Journalisten das Wissen der Stasi nicht nur heraus. Er leitet sie durch das Datendickicht, erklärt die Geheimdienstsprache, findet Querverbindungen.

Seine eigene Akte hat Tobias Hollitzer nicht lesen können. Es existieren nur Bruchstücke. Eines weist auf eine konspirative Wohnungsdurchsuchung hin. Vielleicht war sie an jenem Tag, als er nach Hause kam und jemand die Kohleneimer weggeräumt hatte.