: „Der Gang zu den Urnen hat Sinn“
Dragoljub Mičunović, der Vorsitzende der serbischen Oppositionspartei „Demokratisches Zentrum“ (DC), über den Feldzug der Milošević-Regierung, die Chancen der Opposition und die Folgen eines Wahlbetrugs
taz: Wie ist die Lage in Serbien?
Dragoljub Mičunović: Das Milošević-Regime führt keine Wahlkampagne, es befindet sich auf einem Feldzug. Es beherrscht fast alle elektronischen Medien, und die beschimpfen ungehemmt 24 Stunden lang die Opposition. Die Polizei ist aktiv in die Wahlkampagne des Regimes eingebunden: Sie schüchtert Leute ein, durchsucht Wohnungen und beschlagnahmt willkürlich Wahlmaterial der Opposition.
Hat die Opposition eine Chance?
Auf der einen Seite ist die Unzufriedenheit der Bürger nicht zu übersehen, auf der anderen haben die Menschen ihre Zweifel, ob Milošević einen Machtwechsel überhaupt zulassen würde. Unsere Aufgabe ist, die Wähler zu überzeugen, dass der Gang zu den Urnen wirklich Sinn hat, dass eine Wende möglich ist. Die Stimmen sollen zuerst einmal gezählt werden. Und wenn es dann jemand wagt, den Volkswillen zu ignorieren, nimmt er das ganze Risiko auf sich. Wir müssen erst einmal davon ausgehen, dass nicht unbedingt alles mit Betrug enden muss, dass ein blutiger Bürgerkrieg zu vermeiden ist. Allen Meinungsumfragen zufolge ist eine große Mehrheit für eine Wende.
Warum hat das Regime die Gunst der Wähler gerade jetzt verloren?
Die Menschen in Serbien fallen nicht mehr auf nationalistische Parolen, auf das Gerede über patriotische Gefühle oder die historische Mission des auserwählten serbischen Volkes rein. Die Armut zwingt sie zum Nachdenken. Der Lebensstandard ist so sehr gesunken, dass sich ein Universitätsprofessor zum Beispiel von seinem Gehalt nicht mal mehr ernähren kann. Die Arbeiterklasse ist zum Lumpenproletariat geworden.
Worauf gründet die Wahlkampagne der regierenden Parteien?
Das Volk wird vor die Wahl gestellt, entweder für die Freiheit, die Jugoslawiens Präsident Milošević verkörpert, zu stimmen, oder für eine Sklaverei unter der Herrschaft der Nato, die die Opposition angeblich vertritt. Das Regime versucht dem Volk weiszumachen, dass ein Machtwechsel unvorstellbar, ganz ausgeschlossen und hoffnungslos sei. Erstens soll das potenzielle Wähler der Oppositionsparteien davon abhalten, überhaupt zu den Urnen zu gehen. Zweitens werden die Proteste wesentlich geringer sein, wenn die Leute schon von vornherein davon ausgehen, dass es zu einem Wahlbetrug kommt.
Glauben Sie, dass Milošević eine Niederlage anerkennen würde?
Wir wollen davon ausgehen, dass das Milošević-Regime im Falle seiner Niederlage die Wahlen anerkennt. Doch wenn es zu einem dreisten Wahlbetrug kommt, sind in ganz Serbien spontane Proteste zu erwarten, die das Regime zwingen könnten, das Wahlergebnis anzuerkennen. INTERVIEW: ANDREJ IVANJI
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