: Der Futtertrog für die Ukraine
Elf Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe klagen Kritiker, die Sanierung werde verzögert, um den Westen länger melken zu können ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Am letzten Dienstag fand in Kiew ein Eintagstreffen zwischen ukrainischen Regierungsvertretern, Reaktoroffiziellen und der G-7-Arbeitsgruppe für atomare Sicherheit statt. In der Abschlußerklärung hieß es, die Ukraine und der Westen hätten sich auf einen Plan zur Beseitigung der Gefahr geeinigt, die von den radioaktiven Ruinen des Tschernobyler Kraftwerks ausgeht. Noch dieses Jahr solle die 780 Millionen Dollar teure Stabilisierung der Werksruine beginnen.
Es sieht allerdings ganz danach aus, als ob es sich hier um ein Jubiläumskommuniqué handelt, das es allen Beteiligten ermöglichen soll, am elften Jahrestag der Katastrophe, am 26. April, ihr Gesicht zu wahren.
300.000 Menschen leben von den Unglücksfolgen
Hinter den Kulissen gab es dabei das übliche Schauspiel: allgemeine Uneinigkeit über die Verwendung der bereits bewilligten Gelder, Anschuldigungen der Ukraine an den Westen, mit diesen Mitteln allzu lange hinter dem Berg zu halten, gewürzt mit Prognosen über eine nahende Kettenreaktion im Sarkophag über dem explodierten Reaktor. Dieses Szenarium wiederholt sich, seit 1995 ein Vertrag der hier vertretenen Seiten abgeschlossen wurde, in dem sie sich verpflichteten, das gesamte Atomkraftwerk bis 2000 zu schließen. Momentan arbeitet noch einer der vier Tschernobyl-Reaktoren.
Immer lauter wird die Kritik an der schleichenden Sanierung: Wladimir Ussatenko, der Leiter der ukrainischen Tschernobyl-Kommission, hat den Behörden seines Landes „systematische Verzögerungen“ bei der Sanierung des Katastrophenreaktors vorgeworfen. „Tschernobyl ist zu einem gigantischen Futtertrog geworden“, sagte der vom Parlament bestellte Experte gegenüber dem Greenpeace- Magazin. Kaum jemand in der Ukraine habe ein Interesse, „den Sakrophag zu sanieren und das radioaktive Material zu entsorgen“. Rund 300.000 Menschen lebten von der Atomindustrie und von Hilfen zur Bewältigung der Folgen des Unglücks. Der ukrainischen Umweltminister Juri Kostenko, klagt der Kommissionsleiter, habe nur die einzige Aufgabe, „mehr Geld aus den westlichen Geberländern zu melken“. Ussatenko wurde nach eigenen Angaben selbst gedrängt, Zahlen für Kreditanträge zu fälschen.
Unterm Reaktor liegen 130 Tonnen Strahlenmüll
Wolodymir Poticha, Haupt dieses Ministeriums, sagte dagegen am Mittwoch, sein Land habe in den letzten fünf Jahren 14 Milliarden Dollar ausgegeben, um den Folgen der Katastrophe zu begegnen. „Unsere Ausgaben betragen ein vielfaches dessen, was der Westen anbieten kann“, sagte Poticha. Seit 1987 habe die Ukraine im Schnitt sechs Prozent ihres Staatshaushalts für die Dekontaminierung des Unglücksgebietes ausgegeben.
Zum erstenmal wurde diese Woche immerhin ein Plan des ukrainischen Ministeriums für Ausnahmesituationen bekannt, in der 30 Kilometer Sperrzone um den Reaktor – die offiziell den poetischen Namen Entfremdungszone trägt – Fabriken zur Unschädlichmachung radioaktiven Materials zu errichten. Der Bau dieser Anlagen soll 273 Millionen Dollar kosten, von denen die Ukraine 14,7 Millionen auf die eigene Kappe nehmen will.
Greenpeace-Vertreter in der Ukraine und in Rußland schätzen die Masse radioaktiven Brennstoffes, die sich vor der Explosion im vierten Reaktor befand, auf etwa 252 Tonnen. Mindestens sieben Tonnen davon wurden infolge der Katastrophe als Niederschlag im Umkreis des Reaktors und – in feineren Spuren – weit darüber hinaus versprüht. Nach häufigen Schätzungen verblieben etwa 38 Tonnen im Reaktorgebäude. Der Rest sank unter den Reaktorblock ab, davon etwa 130 Tonnen tief in die Krater, die sich unter der Ruine bildeten. Die Vertreter der Ukraine wollen nun nicht nur das Gelände dekontaminieren, sondern auch diese Massen aus und unter dem vierten Block hervorfischen. Das Unterfangen ist nicht ganz ungefährlich, weil bekanntlich der zur Abschirmung des Unglücksreaktors errichtete Sarkophag inzwischen so manchen Sprung aufweist. Dank der ständigen Bombardierung mit Neutronen von innen beträgt die Gesamtfläche der durchlässigen Stellen nach neuesten offiziellen Angaben schon 100 Quadratmeter.
Was die geplante Schließung des letzten Reaktorblockes betrifft, so war es der Ukraine gelungen, dem Westen die Zusage von 3,1 Milliarden Dollar Übergangshilfe zu entlocken – als Entschädigung für die danach sinkende Energieproduktion. 2,5 Milliarden davon wurden nur als Kredite bewilligt. Ursprünglich war geplant, eine Milliarde von diesen Geldern zur Fertigstellung zweier neuer Reaktoren im Lande zu verwenden: in Chmelnicki und Rowno. Im Februar bestellte jedoch die Europäische Bank für Rekonstruktion und Entwicklung eine Expertenkommission, deren Gutachten die Banker veranlaßte, diese Mittel zurückzuhalten. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluß, daß der Bau der neuen Reaktoren unwirtschaftlich sei, und rieten, die Summe lieber in Energiesparmaßnahmen und alternative Technologien zu investieren. Die endgültige Entscheidung soll im Mai fallen. Doch der Bau von Riesendekontaminierungsanlagen in der „Zone“ wäre ein weltweit einzigartiges Experiment: Es ist nicht ausgeschlossen, daß die internationale Gemeinschaft daher ihre Unterstützung diskutieren will.
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