Der Fortsetzungsroman: Kapitel 37: Liebesgrüße aus Amerika
Mitte der 50er Jahre taucht Onkel Erich, der 1938 in die USA emigriert war, wieder auf. Später kam er jeden Sommer: Die Fortsetzung einer großen Liebe.
Die Scheidung war durch, das Zelten begann. „Es gab keinen Bauer oder Fischer auf Rügen, der nicht irgendwelchen Hausrat von Familie Streisand in seinem Schuppen stehen hatte, wenn wir nicht da waren“, sagt Tante Erna. „Wir hatten ja kein Auto. Die ganzen Kochtöppe wurden das Jahr über eingelagert. Zelt, Luftmatratzen und Federbetten kamen per Gütertaxi.“ Meine Großmutter war ein großes organisatorisches Talent. Sie schaffte es stets, alle Menschen in ihrer Umgebung nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Tante Erna sagt, ich hätte dieses Talent geerbt. Ich habe keine Ahnung, was sie damit meint.
Onkel Erich tauchte Mitte der 50er Jahre das erste Mal wieder auf. Knopsi war krank und hatte hohes Fieber. Mütterchen kam abends spät von der Vorstellung nach Hause. Es muss schon zehn oder elf Uhr gewesen sein. „Das ist der Onkel Erich“, sagte Mütterchen zu Tante Beate, „der ist Arzt, der wird dich jetzt mal angucken.“ Beate erinnert sich an eine sanfte Hand, die sich kühl auf ihre fiebrige Stirn legte und an einen ebenso sanften wie freundlichen Mann, der ein bisschen komisch redete.
Ahnt ihr, von wem ich spreche? Ahnt ihr, wer seitdem regelmäßig nach Berlin zu Besuch kam? Das ist Erich, der Erich Goldmeier, der jüdische Arzt, der 1938 Mütterchen verlassen, eine Krankenschwester geheiratet und nach Amerika emigriert war. „Das war auch keine glückliche Ehe“, sagt Tante Erna.
Mitte der 60er Jahre fuhr Knopsi einmal im Auto mit Onkel Erich von Berlin nach Bakenberg zum Zeltplatz. Onkel Erich hatte ein Hotel in Drahnske gebucht für drei Nächte. Er stand nicht so auf Zelten. Und damit Onkel Erich sich nicht fürchtete, ganz allein in seinem Hotelzimmer, leistete Mütterchen ihm Gesellschaft. Das wiederholte sich dann jeden Sommer. Bis das Zelten irgendwann aufhörte. Aus gesundheitlichen Gründen, wie Mütterchen sagt. Außerdem durfte sie dann in den Westen. Rentner über 65 genossen in der DDR Reisefreiheit. Wer nicht arbeitete, konnte keinen Sozialismus mehr aufbauen. Und wenn Rentner rüber machten? Naja.
„Einmal, das weiß ich noch“, sagt Tante Erna, „waren Knopsi und ich nachmittags zu Hause, ganz normal. Und das Telefon klingelte?“ Mein Großvater war VdN, „Verfolgter des Naziregimes“, die hatten Telefon. Außerdem war er in der Partei und machte an der Uni Karriere, da wird sich auch die Staatssicherheit dafür eingesetzt haben, dass er einen Anschluss bekam. Mittlerweile wohnte mein Großvater in Adlershof und hatte dort einen neuen Telefonanschluss. Anfang der 60er Jahre muss das gewesen sein. Das Telefon klingelte. Mütterchen war dran und fragte: „Gehts euch gut?“ Tante Erna, das kleine Krümelchen, verstand die Frage überhaupt nicht. „Ick dachte schon, es sei irgendwas passiert“, sagt sie, „,Klar jeht‘s uns jut?‘, hab ich gesagt, ,Wieso solls uns nich gut gehn?‘“ Dann nahm Beate der kleinen Schwester den Hörer aus der Hand. Sie war älter und sah sowieso besser durch. Sie redete kurz mit Mütterchen, dann legte sie auf, grinste und sagte: ,Na, die muss ja’n schlechtet Jewissen haben!‘“
Onkel Erich hatte sich im Interhotel Stadt Berlin eingemietet, dem späteren Forum Hotel, heute Park Inn. Auch praktisch für die Stasi. Da waren alle Zimmer verwanzt. Mütterchen wird Erich besucht haben und getan, was man eben so tut. Die Frage ist nur: Warum das schlechte Gewissen?
Das war doch sonst gar nicht ihre Art. War die ganze Verruchtheit am Ende nur vorgetäuscht und sie in Wirklichkeit doch ein Spießer wie alle anderen? Nein, das glaube ich nicht. Ich weiß ja, dass sie eine Affäre am Theater hatte. Und ich weiß, wie Beate sich oft für ihre Mutter geschämt hat. Zugegeben, für Teenager gibt es generell nichts Peinlicheres auf der Welt als Eltern. Wenn Mütterchen den Mädchen Entschuldigungszettel schrieb, stand da nicht drauf: „Beate konnte heute aufgrund eines Magen-Darm-Infekts leider nicht zum Unterricht erscheinen. Ich bitte Sie, dies zu entschuldigen.“
Auf Mütterchens Entschuldigungszetteln stand: „Beate konnte heute nicht zur Schule kommen. Ihr war schlecht.“ Ich finde das super. Beate schämt sich immer noch.
Warum also sollte so jemand ein schlechtes Gewissen kriegen, weil er – also sie – sich mit ihrer Jugendliebe im Hotel vergnügt? So richtig einleuchten will mir das nicht. Deshalb denke ich: Vielleicht ist in diesem Hotel noch etwas anderes passiert. Vielleicht haben sie gar nicht nur gevögelt sondern auch geredet. Soll ja vorkommen. „Liebe machen“ eben. Und vielleicht hat Onkel Erich dann in diesem Moment, als sie beide ganz beieinander waren, er in ihr drin, ihr Blick in seinem, sein Mund auf ihrem, in diesem Moment, wo man denkt: Jetzt kann die Welt untergehen, so soll es bleiben. In diesem Moment hat Onkel Erich vielleicht zu Mütterchen gesagt: „Komm mit mir nach Amerika!“
Mütterchens Herz wird einen Satz gemacht haben vor Glück und sie wird ihn geküsst haben und geweint und er wird auch geweint haben und dann haben sie sich wieder geküsst und alles war ganz wunderbar. Für einen Moment. Und dann wird sie still. Sie befreit sich aus seiner Umarmung, setzt sich auf im Bett. Sie zündet sich eine Zigarette an. Nein, sie nimmt eine Zigarette. Er gibt ihr Feuer, nimmt sich auch eine, zündet sie an, lässt sie im Ascher liegen, schaut ihr beim Rauchen zu. Beim Denken. An die Arbeit. Die Kinder. „Es geht nicht“, sagt sie und schüttelt leise den Kopf. Dann ruft sie ihre Mädchen an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!