Der Fortsetzungsroman: Kapitel 26: Mission impossible 1945

Mütterchen gelang tatsächlich das Unmögliche: Mit viel Chuzpe organisierte sie alle Reisepapiere. Doch dann kamen ihr die Alliierten dazwischen.

Achtung: Gefahr von oben! Bild: ap

Roserie hat zwei Briefbögen von Ardenne geklaut, wo sie als „Halbjüdin“ dienstverpflichtet war. Auf den einen hat Mütterchen mit Schreibmaschine geschrieben, dass Sandys Arbeitsausweis „durch Feindeinwirkung“ verschütt gegangen ist, und auf den zweiten: „Joachim Streisand reist im Auftrag der Firma Ardenne von Berlin nach Jena zu Schott & Zeiss. Zweck der Reise: Auslieferung eines kriegswichtigen Fotoobjektivs.“

Mütterchen sollte mittags zwischen 11 und 12 in die Wehrkreiskommandantur gehen, um die Briefe abstempeln zu lassen. Um die Zeit war bei Ardenne Mittagspause, da konnte Roserie unauffällig das Telefon bewachen, falls irgendwelche Rückfragen kämen.

In der Kommandantur brachte man Mütterchen zu einem hohen Offizier, „to a high officer“, radebrecht sie in einem Englisch-Aufsatz von 1982, den ich gefunden habe. „I begged him to put the stamp under the travel paper“, schreibt sie. Ich liebe diese Frau!

Der Offizier war ein netter freundlicher Mann, der nicht mal mehr mit „Heil Hitler!“ oder solchem Blödsinn grüßte. Es ist mittlerweile März 45. Die US-Armee hat die Rheinbrücke bei Remagen eingenommen, im Osten ist von Sieg keine Rede mehr. Im Südosten lässt Hitler auf Ungarn marschieren. Die anderen bringen ihre Schäfchen ins Trockene.

„The officer looked at my writing and said: ’You have to get the instruction that the text on such paper has to be ’action upon oath‘. Without this declaration I can’t give you the stamp.‘“ Sie hätten schreiben müssen: „Die Firma Ardenne erklärt an Eides statt, dass das Photoobjektiv einem kriegswichtigen Zwecke dient.“ Ohne eidesstattliche Erklärung keine Reisegenehmigung, ohne Reisegenehmigung keine Rettung meines Großvaters.

„Of course I got a shock“, schreibt Mütterchen. Ich muss lachen, als ich das lese. An der Stelle in der Geschichte hat sie IMMER gesagt: „Natürlich bekam ick einen Schock. Mir rutschte regelrecht ditt Herz in die Hose im ersten Moment. Dann kam mir die Idee: ’Kann ich die Erklärung auch telefonisch einholen?‘ Ich konnte. Der Offizier brachte mich zu seiner Sekretärin, die zeigte mir das Telefon. Ich nahm den Hörer ab und schaute dabei unauffällig auf meine Armbanduhr. Es war 5 Minuten vor 11.“

Was würde passieren, wenn Roserie noch nicht am Telefon wäre? Wenn die echte Sekretärin ranginge? Was sollte Mütterchen sagen? Sie hatte sich dem Offizier als Ardenne-Sekretärin vorgestellt.

„I found only one way to help me out“, schreibt Mütterchen“, „I asked the secretary for the toilette. She laughed and showed me the way.“

An der Stelle der Geschichte hat Mütterchen immer leicht gequält das Gesicht verzogen. „Enschulljung, könnte ich vielleicht vorher noch mal kurz zur Toilette?“, hat sie gesagt. Die Sekretärin hat nur gelacht und ihr den Weg gezeigt. Na, und auf der Toilette kann man ja locker mal fünf Minuten verbringen, ohne dass es verdächtig erscheint.

Als Mütterchen zurückkam, entschuldigte sie sich noch mal bei der Sekretärin. Die lächelte nur und winkte ab. Dann wählte Mütterchen die Nummer des Büros von Manfred von Ardenne. Und weil die Sekretärin so freundlich war, traute sich Mütterchen tatsächlich, noch eins draufzusetzen und – während es am anderen Ende klingelte – die Sprechmuschel des Telefons mit der freien Hand zuzuhalten und die Sekretärin zu fragen: „Wollen Sie mithören?“

Man muss wahrscheinlich eine ausgebildete Schauspielerin sein, um sich in einer solchen Situation so voll und ganz in eine Rolle hineinzudenken. Mir an ihrer Stelle wäre der Arsch auf Grundeis gegangen. Aber ich bin auch Geschichtenerzählerin. Mein Beruf ist es, Geschichten zu Ende zu denken. Und die besten Geschichten enden immer in der Katastrophe.

Mütterchen hat einfach die Rolle einer Angestellten von Ardenne gespielt. In dieser Rolle hat sie auch gedacht. Wenn man sich komplett in jemand anderen hineindenkt, dann muss man nämlich auch nicht mehr lügen. Dann denkt man in dem Moment einfach eine andere Wahrheit. Der Schauspieler IST nie die Rolle. Aber er DENKT wie die Rolle. Wenn er gut ist. Und trotzdem bleibt die Kontrollinstanz immer eingeschaltet. Das Bewusstsein, eine Rolle zu spielen, bleibt immer wach. Alles andere wäre auch ungesund. Besonders im vorliegenden Fall.

Die Sekretärin winkte ab.

„War ich erleichtert, als ich Roseries Stimme hörte!“, sagt Mütterchen.

Die Sekretärin tippte mit ihrer Schreibmaschine auf den gefälschten Brief von Ardenne: „Die eidesstattliche Erklärung wurde telefonisch erteilt“, Mütterchen bekam ihren Stempel, ging zur Bahnhofsverwaltung, bekam den zweiten Stempel und dann hielt sie tatsächlich eine offizielle Reisegenehmigung auf einem gefälschten Dokument in den Händen. Damit ging sie zum Bahnhofsschalter. „I went to Anhalter Station“, schreibt sie. Der schöne Anhalter Bahnhof.

Sie kaufte ein Retour-Ticket Berlin–Jena/Jena–Berlin, schmiss die Hinfahrkarte direkt in den nächsten Mülleimer und steckte die Rückfahrkarte zusammen mit den abgestempelten Reisegenehmigungen in einen Briefumschlag, adressiert an Joachim Streisand, postlagernd, Jena.

Drei Tage später flogen die Alliierten einen Luftangriff auf Jena. Eine Bombe traf das Postamt. Das Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder.

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