Der Fortsetzungsroman: Kapitel 19: "Versteck dich im Schrank!"
Doch, es gibt Mütterchen noch: Nur weiß man über sie etwas weniger als über ihren Verlobten. Aber genug, um sie wieder ins Spiel zu bringen.
"Was macht eigentlich Mütterchen?“, hat meine Tante mich gestern gefragt, „Du wolltest doch einen Roman über Mütterchen schreiben und jetzt hängste die ganze Zeit an den Briefen meines Vaters fest. Erzähl doch mal wieder was von Mütterchen!“
Das Problem ist, dass ich nicht weiß, was sie gemacht hat. Ich hab nur seine Version. Und ihre Erzählungen 50 Jahre später. Beziehungsweise meine 20 Jahre alten Aufzeichnungen ihrer Erzählungen.
– „Dann denk dir was aus!“, sagt meine Tante, „Das machen doch Schriftsteller.“
Also gut. Mütterchen.
Mütterchen währenddessen saß in Guben auf ihrem Bett mit den abgesägten Beinen und las die Briefe. Immer und immer wieder.
Morgens um halb sechs stand sie auf, fuhr mit der Straßenbahn zu Bergmann-Borsig ins Büro, setzte sich in der Depositenabteilung hinter ihren Schreibtisch, spannte einen Bogen in die Schreibmaschine, machte ein paar Scherze mit den Sekretärinnen, flirtete kurz mit dem Vorarbeiter und schrieb einen neuen Liebesbrief an Sandy, ihren Geliebten, Verlobten, meinen Großvater:
Guben, Donnerstag, 14. 12. 44
Herzblatt,
nu reicht’s. Ich komme! Zu Weihnachten komme ich und hole Dich runter von der Decke, unter der Du schwebst. Du erwartest nicht, dass ich mehr als ein Zehntel von Deinem letzten Brief verstehe, oder?
Zu Weihnachten nehme ich Dich fest in meine Arme und lasse Dich nie wieder los. Vorläufig zumindest. Dann kannst Du mir die Sache persönlich erklären. Deine Auffassung von Kommunismus müssen wir noch mal diskutieren.
Ab 23. habe ich frei. Freitagabend, den 22. nach Büroschluss steige ich in den Nachtzug nach Jena.
Sieh mal zu, dass du ein Zimmer über Weihnachten für uns besorgst. Doppelstockbetten sind nicht so meins. Die quietschen so unanständig …
Küsse überall.
Deine Juschka
P.S. Fräulein Mischke, die Sekretärin mit der Turmfrisur, geht mir gehörig auf die Nerven mit ihrem ständigen Geschwätz. Fast wie Tante Mimmi. Da fällt mir ein, ich muss Tante Mimmi schreiben, dass ich Weihnachten nicht zu ihr komme. Sie wird schrecklich enttäuscht sein. Womöglich droht sie mir sogar, nie mehr mit mir zu reden. Das wär’ ja mal was. Mach’s gut, Geliebter. Deine Geliebte
Tante Mimmi war seit dem Tod meiner Urgroßeltern Anfang der 1930er Jahre Mütterchens einzige noch lebende Verwandte. Sie wohnte in Potsdam und wurde bisweilen besucht. Dann gingen Mütterchen und Tante Mimmi im Englischen Garten spazieren und Tante Mimmi erzählte. Genauer: Sie plapperte. Übers Wetter, das Essen, die Nachbarn. Völlig belangloses Zeug. „Wir haben aber auch Glück mit dem Wetter“, sagte Tante Mimmi und Mütterchen machte: „Mhm.“ Dank dieser Tante nämlich hatte Mütterchen gelernt, an der Melodie des Gesprochenen zu erkennen, wann eine Reaktion vonnöten war. Sobald der Redefluss sich verlangsamte oder es Melodieausschläge nach oben gab, sagte Mütterchen nur „Ach?“ oder „Ja?“, „Nein, wirklich?“, „Sapperlot!“ und schon hatte sie wieder ihre Ruhe.
Weihnachten in Jena war die reine Wonne. Mit Fell gefütterte Handschuhe hat sie ihm geschenkt, damit ihm beim Trümmerwegschippen nicht die Schreibfinger abfroren. Seine Filzhandschuhe hatte er zwei Wochen zuvor an der Straßenbahnhaltestelle Wöllnitz in Jena liegenlassen.
Zweimal hat Mütterchen ihn im Lager besucht.
Einmal zu Weihnachten und dann noch mal Mitte Januar übers Wochenende vom 13. bis 15. 1. 1945, da hatte er die Grippe und war krankgeschrieben.
Mütterchen reservierte ein Zimmer im Hotel „Deutscher Hof“, da schlossen sie sich ein und machten ein Bed-in. Wie John und Yoko. Und dann war Bombenalarm. Aber weil mein Großvater ja ein Häftling der Organisation Todt war, ein krankgeschriebener noch dazu, konnte er schlecht in den Luftschutzkeller des „Deutschen Hofs“ spazieren, wenn er eigentlich im Lager das Bett hüten sollte.
– „Oh Gott, was machen wir denn jetzt?“, rief Sandy aufgeregt und sprang vom Bett auf.
– „Ruhe bewaren“, sagte Mütterchen, lief zur Zimmertür und legte das Ohr ans Holz. Auf dem Gang war einige Aufregung. Mütterchen sah sich im Zimmer um. „Der Schrank“, sagte sie, „versteck dich im Schrank.“
Sie schloss die Schranktür hinter Sandy, drapierte sich selber aufs Bett und wartete. Kurz darauf klopfte es. „Ja bitte?“, sagte sie in gespielt herablassenden Tonfall. „Hallo, Fräulein“, sagte der Hotelpage schüchtern, „kommen Sie nicht mit in den Keller?“ – „Nein danke“, sagte Mütterchen divenhaft und blätterte gelangweilt in einer Zeitschrift (Zeitschrift? Gab es noch Zeitschriften im Januar 1945? Eher nicht! Vielleicht haben sie ein paar ältere Ausgaben zur Dekoration hingelegt).
Mütterchen blieb auf dem Zimmer. Zusammen mit ihrem Geliebten. Sie legten sich ins Bett, kuschelten sich ganz eng aneinander, zogen sich die Decke über die Köpfe und küssten sich inniglich, mit verzweifelter Leidenschaft. (Obwohl? Küssen? Wenn er die Grippe hat? Erotik geht anders. Aber wen interessieren Bazillen im Angesicht des Todes? Welch wahnsinnige Angst sie gehabt haben müssen in dem Hotelzimmer, während die Flieger über sie hinwegdonnerten und die Bombendetonationen das Bett erschütterten, in dem sie lagen. „To die by your side“ war den Smiths vielleicht 1986 eine romantische Vorstellung. Ich bin froh, dass meinen Großeltern dieser Weg ins Himmelreich verschlossen blieb.)
Am Montagabend, den 15. Januar schreibt Sandy:
„Meine.
Nachmittags habe ich ereignislos im Bett gelegen und Griesbrei (aber nicht besonders schönen) vom Mittag aufgefressen. Ansonsten döse ich weiter vor mich hin und liege in deinem Schoss. Dem einzigen mir zugewiesenen Ort auf der Welt.“
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