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■ Der Föderalismus wird überschätzt. Warum nicht Hand an ihn legen? Die Zukunft der Bundesstaats-Idee ist europäischNeue „Checks and Balances“

Die Angriffe auf den deutschen Föderalismus haben viel Aufregung produziert – auch wenn sie vermutlich gar nicht ernst gemeint sind. Man könnte die aktuelle Debatte aber durchaus als Chance sehen. Als Chance, sich über den Wert des Föderalismus neu zu verständigen. Am Ende könnte ein gezielter Rückbau des deutschen Bundesstaates stehen und eine Stärkung plebiszitärer Elemente im Grundgesetz. Der föderalistische Gedanke hätte seine Zukunft dann vor allem auf europäischer Ebene. Für Bürgernähe sorgte eine Stärkung von Kommunen und Regionen.

Ausgelöst hat die Föderalismusdebatte Hans-Olaf Henkel vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Seine Klage über die mangelnde Anpassungsfähigkeit der deutschen Politik machte dafür auch das Grundgesetz und nicht zuletzt die komplizierten Bund/Länder-Strukturen verantwortlich. Aufgegriffen wurde der Vorstoß von Wolfgang Schäuble (CDU) und Otto Graf Lambsdorff (FDP). Fast unisono forderten sie, die Mitwirkungsrechte des Bundesrates bei Bundesgesetzen zu beschneiden. So soll mehr Schwung in die Bundespolitik kommen.

Das Manöver ist so durchsichtig, daß man nicht viele Worte darüber verlieren muß. Die Herren stört das Ergebnis, nicht die Struktur. Sie sind beleidigt, weil die SPD via Bundesrat wichtige Regierungsvorhaben blockiert. Wäre die Konstellation andersherum, würden sie eine Stärkung des Föderalismus fordern, damit die standortschädliche Politik einer rot-grünen Regierung durch die bodenständigen und vernünftigen (Unions-) Landespolitiker im Zaum gehalten werden kann.

Auf die groben Vorschläge aus dem Lager der Standortpolitiker gab es eine fast schon groteske Reaktion der linksliberalen Medien. Henkel und Co. wurden flugs zu „Verfassungsfeinden“ erklärt. Heribert Prantl drohte in der Süddeutschen Zeitung sogar mit dem Widerstandsrecht des deutschen Volkes, denn der Zentralismus habe schon einmal „in die Katastrophe“ geführt. Man kann es mit dem Strukturkonservatismus auch wirklich übertreiben. Als Lehre aus dem Faschismus wird in Deutschland doch vieles verkauft – von der Marktwirtschaft bis zur Fünfprozenthürde. Will man hier überall Diskussionsverbote aufstellen? Das Grundgesetz verbietet keineswegs, die Rechte des Bundesrates zu reduzieren. Es verlangt zwar (unabänderbar), daß die Länder an der Gesetzgebung des Bundes beteiligt sind, Vetopositionen werden dabei jedoch nicht garantiert.

Es lohnt sich deshalb, den deutschen Bundesstaat einmal näher zu betrachten. Man wird feststellen: Unser Föderalismus ist ein Witz. Es kann keine Rede davon sein, daß er die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung der Länder sichert. So sind diese im Bereich der Gesetzgebung fast völlig abgemeldet. Und selbst dort, wo die Länder noch Gesetze erlassen können, bei Rundfunk, Polizei und Bildung, haben die Landtage kaum etwas zu sagen. Die Länder koordinieren sich mittels Staatsverträgen, Musterentwürfen und Ministerkonferenzen und sorgen so auch ganz ohne Bund für weitgehend einheitliche Lebensverhältnisse – was im Ergebnis ja meist auch ganz vernünftig ist.

Ein gutes Beispiel ist der aktuelle Streit um die Rechtschreibreform, die im wesentlichen in die Zuständigkeit der Länder fällt. Die Landesexekutiven hatten sich untereinander geeinigt, ohne ihre Landtage einzuschalten. Und obwohl eine gesetzliche Regelung nicht geschadet hätte (von manchen Gerichten wird sie derzeit sogar gefordert), versuchten die Länderminister viel, um eine Landesgesetzgebung zu verhindern. Die Minister wissen, daß es keinen Sinn macht, wenn die Schüler in jedem zweiten Bundesland eine andere Rechtschreibung lernen. Aber für den Föderalismus sind natürlich alle.

Föderalismus in Deutschland, das heißt vor allem Mitsprache in der Bundespolitik. So kann die Länderkammer bei jedem Bundesgesetz mitbestimmen, in mehr als der Hälfte aller Fälle ist sogar ihre ausdrückliche Zustimmung erforderlich. Mit bürgernahen Entscheidungen hat dieser Scheinföderalismus nicht mehr viel zu tun. Gestärkt werden vor allem die Landesministerien und ihre Beamtenapparate.

Darüber kann man natürlich hinwegsehen, wenn man wie Christian Semler (taz vom 9. August) jede Hemmung schneller Entscheidungen als antifaschistische Aktion begrüßt. Allerdings könnten an solche „Checks and Balances“ zur Abwechslung auch einmal inhaltliche Kriterien angelegt werden. Und dann wäre es beispielsweise sinnvoller, die in Deutschland noch stark unterentwickelte direkte Demokratie auszubauen. Denn wenn man schon den Bundestag schwächt, dann sollte mehr Demokratie herauskommen und nicht weniger. Durch die Stärkung plebiszitärer Elemente würde jedenfalls die Transparenz der Entscheidungen erhöht, während sie im Bonner Bund-Länder-Vermittlungsausschuß fast völlig verlorengeht.

Ein solcher Umbau unseres Verfassungssystems paßt durchaus in die Zeit. Schließlich müssen in einer globalisierten Wirtschaft ernst gemeinte Steuerungsentscheidungen ohnehin auf immer höherer Ebene gefällt werden. Am Ausbau der Europäischen Union zu einer Art Bundesstaat führt daher kein Weg vorbei. Das aber wäre dann ein echter Föderalismus mit Staaten, die noch wirkliche Kompetenzen haben und eigenständige Diskursräume sind. Checks and Balances gibt es in Europa ohnehin mehr als genug. In dem Maße, wie sich der europäische Bundesstaat entwickelt, könnte dann aber auch der deutsche Bundesstaat zurückgebaut werden, andernfalls produziert man wirklich Politikverflechtungsknoten.

Auch ein historisches Wir-Gefühl transportieren die wenigsten Länder. Würde ihre Zahl übergangsweise auf drei reduziert, nämlich auf Westdeutschland, Ostdeutschland und Bayern, mal ehrlich, dann wäre das Selbstverständnis der Bevölkerung doch wohl auch nicht schlecht getroffen.

Als Experimentierlabor an der politischen Basis sind dagegen Kommunen und Regionen viel eher geeignet als die Bundesländer. Vor Ort ist die Partizipation ohnehin am leichtesten, deshalb müssen auch dort die Spielräume erweitert werden. Ein Europa der Kommunen und Regionen braucht keine Bundesländer. Wenn sich diese als Regionen bezeichnen, ist das vor allem geschicktes Politikmarketing. Christian Rath

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