Der „Dau“-Bluff im Berlinale-Wettbewerb: Da ist gar kein Elefant
Filmmaterial, das nur aus Längen besteht. Schauspieler, die sich fast reales Leid zufügen. Ein manipulativer Regisseur. Wer braucht „DAU. Natasha“?
In einem sind sich alle einig, Fans wie Verächter: So etwas wie das Dau-Projekt hat es noch niemals gegeben. Am Anfang stand die Idee eines historischen Films um die Biografie des sowjetischen Physikers und Nobelpreisträgers Lew Landau. Die Sache hatte sich Regisseur Ilja Chrschanowski ausgedacht, zuvor nur mit einem (faszinierenden) Film hervorgetreten, ein Mann, der die Öffentlichkeit scheut. Diese Sache wuchs sich, gelinde gesagt, aus. Irgendwann ist sie auch Chrschanowski entglitten, der im wohl so mittelkorrupten Oligarchen Sergei Adoniev einen höchst spendablen und geduldigen Geldgeber fand.
Es wurde ein riesiges Filmset in der Ukraine errichtet, die Dreharbeiten zogen sich über mehrere Jahre. Aber auch in den Phasen, in denen nicht gedreht wurde, lebten viele der Darsteller*innen einfach weiter in den Kulissen. In wechselnden historischen Kostümen, das Projekt umfasst einen Zeitraum von den dreißiger bis in die fünfziger Jahre, versteht sich als Allegorie der totalitären Stalin-Jahre. Am Set waren keine Handys und dergleichen erlaubt, sogar der Gebrauch zeitgenössischen Vokabulars war in den Richtlinien, die alle unterschreiben mussten, strikt untersagt.
Weil zu den Richtlinien auch eine Schweigeklausel gehört, weil nur ausgewählte Reporter das Set besuchen durften, die eher sensationalistisch berichteten, bleibt für Außenstehende eher unklar, wie genau das Leben und dann auch die vergleichsweise sporadischen Drehs (Kamera: Jürgen Jürges) vor Ort verliefen.
Es sind viele Gerüchte und Geschichten in Umlauf, die sich zu einem ziemlich unguten Bild verdichten: Der offenbar höchst charismatische Chrschanowski wird von den einen als Visionär verehrt, von anderen sehr plausibel als eine Art narzisstischer Sektenführer beschrieben, als skrupelloser Manipulator, der Leute dazu bringt, Dinge zu tun, die sie später bereuen.
27. 2., 15:30 Uhr, Friedrichstadt-Palast;
27. 2., 21:15 Uhr, Haus der Berliner Festspiele;
29. 2., 18:30 Uhr, Friedrichstadt-Palast;
1. 3.,, 22 Uhr, International
Was nun auf der Berlinale zu sehen ist, ist nur ein recht winziger Ausschnitt des gesamten Projekts. In Berlin war der Versuch, es als riesige Installation auf die Beine zu stellen, gleich zweimal spektakulär gescheitert. In Paris war in zwei Theatern im Zentrum der Stadt ein eher matter Nachbau des stalinistischen Russland zu besichtigen (man musste ein „Visum“ erwerben und das Handy am Eingang abgeben): Der seit einem Jahrzehnt kreißende Dau-Berg hatte ein dann doch eher laues Lüftchen geboren.
Vorab, dann in Paris, nun in „Natasha“ habe ich mehr als zehn Stunden des unübersichtlichen Dau-Filmmaterials gesehen. Anfangs denkt man noch, es sei wie mit den Blinden und dem Elefanten: Man ertastet ein seltsames Teil eines riesigen Tiers nach dem andern und begreift erst spät, worum es sich eigentlich handelt. Mein Fazit nach all diesen Stunden: Da ist gar kein Elefant. Da sind vielmehr Stunden um Stunden, die weniger Längen haben, als dass sie aus nichts als Längen bestehen.
Das Faszinosum liegt jedenfalls kaum in dem, was man auf der Leinwand sieht: Besäufnisse, ein unüberschaubares Personaltableau, der nominelle Protagonist Landau (vom Star-Dirigenten Teodor Currentzis gespielt) ist eher selten im Bild. Dafür: endlos viel Gequatsche, spinnerte, teils sadistische Experimente mit Mensch und Tier, Wissenschaftler*innen vor Tafeln mit Formelanschriften, Streit, Schlaf und Sex, ziemlich viel Sex.
Das Faszinosum, jedenfalls für die, die eins sehen, liegt wohl darin, dass das Projekt eine Grauzone schafft: zwischen Fiktion und realem Leben. Es sind am Set, das sich für viele der Beteiligten wie eine zweite Wirklichkeit anzufühlen begann, Beziehungen und Kinder entstanden.
Der Sex, den Natasha (Natalia Berezhnaya) vor unseren Augen recht ausführlich mit dem real existierenden Eso-Wissenschaftler Luc Bigé hat, ist also echt. Oder so ähnlich wie echt. Auch die Trinkspiele mit der Kollegin Olga (Olga Shkabarnya) sind echt, deren Kotzen ist echt, die Nacktheit Natashas beim Verhör ist echt, die Flasche, die sie sich vaginal einführen muss, ist echt.
Gefilmt ist das mit Handkamera, formlos, ohne Musik. Die Schutzwand der Fiktion ist fast nicht vorhanden. So fügen die Darsteller*innen einander fast reales Leid zu. Die Fans sagen: Hier haben wir, zwar künstlich hergestellt, vor der Kamera unverdünnt richtiges Leben. Ich frage mich inzwischen: Wie muss man drauf sein, um das zu goutieren?
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