■ Der Countdown läuft für eine US-Intervention in Haiti: Nur eine Frage der Zeit
Der Countdown läuft. Die Frage ist nicht mehr, ob, sondern nur noch wann die militärische Intervention der USA auf Haiti stattfinden wird: heute, morgen, übermorgen oder erst in ein paar Wochen oder Monaten. Zwar hat Bill Clinton schon oft mit der Entsendung golfkriegserprobter US-Marines gedroht, aber diesmal scheint es ihm ernst zu sein: Seine sinkende Populationskurve, die mit dem absoluten Tiefstand des Dollars zusammenfällt, zwingt den Präsidenten ebenso zur Flucht nach vorn wie die Intransigenz der haitianischen Militärs, die die Frechheit besaßen, sämtliche zivilen UNO-Beobachter aus Haiti auszuweisen, nachdem sie letzten Herbst einem Schiff mit Blauhelmsoldaten die Landung verweigerten. Das war das vorläufig letzte Glied in einer Kette von Demütigungen und Brüskierungen der Weltöffentlichkeit, die mit dem Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Aristide im Herbst 1991 begann: Seitdem wurden Tausende von Anhängern und Anhängerinnen des ins Exil vertriebenen Befreiungstheologen von Todesschwadronen ermordet, in Folterzentren der Armee verschleppt oder brutal vergewaltigt und dabei gezielt mit Aids infiziert.
Die Terrorwelle nach dem Vorbild von Papa Docs „Tontons Macoutes“ dient vor allem der Einschüchterung der haitianischen Bevölkerung. Die Einwohner des ärmsten Landes Lateinamerikas werden doppelt bestraft: dafür, daß sie die Duvalier-Diktatur gestürzt, und dafür, daß sie die Demokratie gewählt haben. „Haitis Militärs“, sagte Dante Caputo, Chef der ergebnislos abgebrochenen diplomatischen Mission der OAS, „haben nur eins gelernt: zu foltern, zu morden und zu vergewaltigen, und sie wollen, daß keiner ihnen dabei zusieht.“ Zumindest in diesem Punkt dürfte sich Putschgeneral Raoul Cédras verrechnet haben: Die Präsenz des Fernsehens und der internationalen Presse in Port-au-Prince ist heute größer als je zuvor, und sie verstärkt den Druck auf den US-Präsidenten, auf der Karibikinsel endlich Flagge zu zeigen.
Haiti ist nicht Bosnien und auch nicht Somalia. Es liegt vor der Haustür der USA, nur einen Katzensprung von Miami entfernt, und es bedroht den großen Bruder im Norden einzig und allein durch baufällige Boote, deren Insassen von der US-Küstenwache aufgefischt oder tot an die Strände von Florida gespült werden – Sendboten eines jede Vorstellung übersteigenden Elends, das sich nicht länger von den Bildschirmen und aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängen läßt. Die militärische Invasion Haitis ist zwar kein Sonntagsspaziergang, aber sie wäre vermutlich von raschem Erfolg gekrönt. Flughafen, Präsidentenpalast und die nahe gelegenen Casernes Dessalines lassen sich im Handstreich erobern; von den siebentausend schlecht ausgerüsteten und schlecht ausgebildeten Soldaten der regulären Armee, die seit Monaten keinen Sold mehr bekommen haben, ist fürs erste kaum Widerstand zu erwarten, und die mit Aristide sympathisierende Mehrheit der armen Bevölkerung wird die Amerikaner als Befreier begrüßen.
Aber am Morgen nach der Invasion fangen die Probleme erst richtig an. Abgesehen davon, daß der linke Befreiungstheologe Aristide nicht als Statthalter Washingtons in den Präsidentenpalast einziehen will, weil sein Amtseid ihn zum Schutz der nationalen Souveränität verpflichtet; abgesehen davon also, daß Aristide sich nach wie vor gegen eine US-Intervention ausspricht, ist Haiti durch dreißig Jahre Diktatur und wechselnde Militärregimes so weit heruntergewirtschaftet, daß eine Sanierung des bitterarmen Landes einer Sisyphusarbeit gleichkommt. Die Propaganda der Neo-Duvalieristen, die Aristide und seine ausländischen Freunde für die Folgen des Embargos verantwortlich machen, findet mehr und mehr Gehör bei der demoralisierten Bevölkerung. Vermutlich würde ihr harter Kern in den Untergrund abtauchen und der von der Besatzungsmacht eingesetzten Regierung mit Attentaten und Sabotageakten das Leben schwermachen.
Der Nationalstolz der Haitianer ist nicht zu unterschätzen, denn jedes Schulkind hier weiß, daß seine Vorfahren sich zu Zeiten der Französischen Revolution in einem blutigen Guerillakrieg Freiheit und Unabhängigkeit von Frankreich erkämpft haben. Die letzte Invasion Haitis durch US-Truppen 1915 endete nach 19jähriger Besatzung mit dem unrühmlichen Abzug der Amerikaner. Das ist auf Haiti bis heute in unguter Erinnerung. Hans Christoph Buch
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