Wir lassen laufen: Der Bankrott der menschlichen Rasse
■ Millionen joggen, hecheln, keuchen – und Leute wie Baudrillard schreiben darüber
Und los geht's. Hecheln, keuchen, pusten. Laufenlaufenlaufen. Vorwärtsstolpern und vorwärtsdenken. Nie aufgeben. Weiter. Weiterweiter. Marathon. Vielleicht auch nur die Hälfte. Reicht ja. Oder auch nur ein halbes Stündchen oder so. Tippeln, tappeln, toppeln. Jedenfalls: immer weiter. Gelenkig durchs Gelände; arthroseanfällig über Asphaltwüsten. Bis zum selbstgesteckten Ziel.
Es gibt Menschen, die laufen jeden Sonntag ein Stündchen. Sogar ausgedünnte Außenminister, die es strammwadig täglich tun. Manche haben in ihrem Leben schon mehrere Erdumrundungen verrannt, andere laufen zehn Marathons am Stück (beim Zehnfach-Triathlon, da waren sie vorher aber schon ein paar Tage schwimmend und radelnd unterwegs).
Beim Köln-Marathon zuletzt kam ein 73jähriger locker nach vier Stunden ins Ziel getrabt. Andere kollabierten da gerade mit blutüberströmten Trikotagen von aufgescheuerten Brustwarzen. Auch hier, zwischen zwei Buchdeckeln, quält sich einer maßlos: „Es schmerzte... Ich fühlte mich elend. Ich dachte an Schweinsbraten, an Bier, an Torten... ich wollte sterben.“ Seine Frau hatte ihn ständig angetrieben, damit er gefälligst abnehme. Am Ende tötet er sie und verfettet wieder wohlig und zufrieden.
Gut 30 Geschichten sind hier gesammelt, Literaturstücke quer durch die Kulturen und Jahrhunderte. Von Laufenthusiasten und Laufspöttern. Von Staunern. Kopfschüttlern. Bewunderern.
Jean Baudrillard jubelt ironisch „Jogger sind die wahren Heiligen“ und drischt, den New York Marathon fassungslos beobachtend, auf sie ein: „Es ist ein Spektakel des Weltuntergangs... Mit nackten Oberkörpern und verdrehten Augäpfeln suchen sie alle den Tod, den Tod durch Erschöpfung. Gemeinsam übermitteln sie die Nachricht vom Bankrott der menschlichen Rasse...“ Nichts Wichtiges mehr wie einst beim ersten Mal. Sondern nur noch vieltausendfach ein egozentrisches: I did it! Baudrillard resigniert: „Man kann zwar ein durchgegangenes Pferd zum Stehen bringen, nicht aber einen joggenden Jogger. Er muß die Ekstase der Erschöpfung, den höheren Zustand der mechanischen Vernichtung erreichen.“
Selbstkasteiung? Selbstzerstörung? Zu gut darf man auch nicht sein als Läufer. Der Schwabe Dieter Baumann, als jahrelang schnellster Weißer ein besonders ausdauernder Dauerläufer, schreibt, am liebsten wäre es den Sportfestveranstaltern, wenn er immer „am Anfang, in der Mitte und im Schlußrennen laufen würde“. Also nonstop als dauerhafter Dauerdauerläufer. Und er fragt: „Warum zwischendrin nicht noch ein bißchen fliegen?“
Dabei tut er genau das, der Dieter. Nicht nur zwischendrin, sondern dauernd. So wie jeder Hobbyläufer. Jedes Joggen ist: fliegen. In seiner Minimalform. Schließlich unterscheidet sich das Laufen vom Gehen dadurch, daß man zwischen zwei Schritten jedesmal momentweise komplett in der Luft ist. Minimalfliegen also... sekundenbruchteilweise... der sportive Mensch als erdnaher Vogel auf Zeit...
Ob darauf auch schon mal ein Homer und Herodot, ein Siegfried Lenz und H.C. Andersen, ein Grimm-Bruder oder Pückler-Fürst gekommen ist? Weiterlesen also und suchen! Vielleicht in der quälenden Noah- Gordon-Geschichte vom persischen chatir, dem Jubellauf ausgerechnet nach Ende des auszehrenden Fastenmonats Ramadan.
Oder bei Ödön von Horvaths Erkundungen über die menschheitsgeschichtlichen Anfänge: „Als jener geniale Mensch, der als erster seines Geschlechts aus der Baumwipfelheimat zu Boden sprang – da wurd die Leichtathletik geboren.“ Und dann ist er losgeflogen?
Hm. Weitersuchen: Überall ausdauernd guter Stoff für Lesemarathonians... Bernd Müllender
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