Denunziationen in der Türkei: Klima der Angst
Seit dem Putschversuch 2016 zeigen immer mehr Menschen ihre Mitbürger anonym an. Die türkische Regierung forciert das Denunziantentum.
Am 5. April erschießt ein Doktorand der Osmangazi-Universität in Eskişehir vier Menschen an ihrem Arbeitsplätzen am Institut für Erziehungswissenschaften. Die türkische Regierung verhängt eine Nachrichtensperre über die Tat. Denn der Täter hat nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 mehr als 200 Akademiker*innen der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt und diese bei der Polizei und Staatsanwaltschaft gemeldet. Einige der Anzeigen, die Ermittlungen nach sich zogen, erwiesen sich als haltlos, Mitglieder des Kollegiums beschwerten sich bei der Universität über den Denunzianten. Dieser bekommt darüber Wutanfälle, greift zur Waffe und tötet die Personen, die sich über ihn beschwert haben.
Rechtsanwältin Aslı Kazan verteidigt Menschen, die wegen falschen Anschuldigungen vor Gericht stehen. taz.gazete hat mit der Juristin über das aktuelle Ausmaß des staatlich geförderten Denunziantentums in der Türkei gesprochen.
taz.gazete: Frau Kazan, begünstigt das aktuell geschaffene Klima, dass Menschen auch aus privaten Gründen andere denunzieren?
Aslı Kazan: Selbstverständlich. Eine Frau, die in der Leitung einer privaten Fluggesellschaft tätig ist, trennt sich von ihrem Verlobten, der bedroht sie, woraufhin sie ihn anzeigt. Während die Ermittlungen gegen den Ex-Verlobten laufen, wird über einen Social Media-Account, der auf den Namen der Frau läuft, ein Post mit Bezug auf die Parlamentswahlen 2015 geteilt: „7. Juni, setzen wir dem Fanatiker-Sultanat ein Ende.“ Anschließend zeigt ein Freund ihres Ex-Verlobten die Frau beim PR-Zentrum des Ministerpräsidentenamts BIMER an. Obwohl die Frau versichert, dass sie soziale Medien gar nutze und dass es sich bei dem Mann, der sie anzeigte, um einen Freund ihres Ex-Verlobten handele, stellt der Staatsanwalt eine Anklageschrift aus – ohne Ermittlungen oder Untersuchungen auch nur für nötig zu halten. Es gibt viele Beispiele wie diese.
So wie im Fall des Doktoranden, der vier Universitätsmitarbeitende in Eskişehir erschoss. Auf seine Anzeigen hin wurden Dutzende Menschen angeklagt und verhaftet. Wie beurteilen Sie als Juristin das Ausmaß des Denunziantentums in der Türkei?
Wenn eine Anzeige im rechtlichen Rahmen geschieht, um eine Straftat vorzubeugen oder Menschen zu helfen, ist sie von großer Bedeutung. Zum Beispiel die Anzeige einer kriminellen Organisation, die Geflüchtete schleust oder die Meldung eines Verletzten. Aber in Zeiten, wo die Regierung versucht die Gesellschaft mit Druck, Angst und Repressalien in den Griff zu bekommen, wird das Erstatten von Anzeigen auch zu Denunziationen genutzt, die derzeit auch noch gefördert werden.
Viele Journalisten wurden und werden auf anonyme Anzeigen hin verhaftet. Kommt so etwas auch in anderen Ländern vor?
In Ländern wie der Türkei, wo demokratische Kultur und rechtsstaatliche Prinzipien nicht etabliert sind, wo es auch keine eindeutigen gesetzlichen Regelungen gibt, ist die Verwechslungsgefahr zwischen Anzeige und Verleumdung eine unausweichliche Folge. Beim Beispiel Eskişehir soll der Täter mehr als 200 Personen denunziert haben. Das ist eine extrem hohe Zahl. Dass der Denunziant jeden, über den er sich ärgerte, als FETÖ-Mitglied angezeigt und und keinerlei Beweise für seine Anschuldigungen vorgelegt hat, lässt Zweifel an der psychischen Gesundheit des Mannes aufkommen.
Doch die Staatsanwälte nahmen seine Aussagen ernst. Gegen 35 von ihm denunzierte Personen wurde Anklage erhoben, 26 von ihnen sind sogar inhaftiert. In Gesellschaften, wo unbewiesene Denunziationen von der Regierung gefördert und Denunziantentum gelobt wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Menschen aus den unterschiedlichsten Motiven denunzieren. Denunziantentum entsteht nicht, um Recht und Gerechtigkeit zu installieren, sondern aus einem Bedürfnis zu außerordentlicher Gerichtsbarkeit heraus.
Welche Unterschiede beobachten Sie zwischen den Anzeigen und Denunziationen in der Zeit vor und nach dem Putschversuch 2016?
Vor dem 15. Juli gab es anonyme Schreiben ohne Unterschrift. In inszenierten Prozessen mit Geheimzeugen wurden zur Stützung der Anklagen auch falsche Beweise produziert. Die Regierung beanspruchte noch das Konzept einer „fortgeschrittene Demokratie“ und das Ideal einer „Neuen Türkei“ für sich. So inszeniert die Prozesse waren, es war wichtig, sie vor „neutralen, unabhängigen Gerichten“ zu führen, um den Anschein des Primats der Rechtsstaatlichkeit zu erwecken und um eine internationale Öffentlichkeit zu schaffen. Dazu brauchte es keine Denunzianten, die jeden willkürlich angezeigt haben. Es gab Geheimzeugen, die Aussagen nach Szenarien machten, die man ihnen zuvor auftrug.
Die Regierung hat also kein Interesse mehr daran, die Gerichtsverfahren vor der internationalen Öffentlichkeit zu legitimieren?
Die mit Notstandsgesetzgebung regierte „Neue Türkei“ hat kein Interesse mehr an „fortgeschrittener Demokratie“, daher auch keins, diese zu legitimieren. Ganz offensichtlich macht sich die Justiz, die sich der Regierung ausgeliefert hat, keine entsprechenden Gedanken. Der Ausnahmezustand hat andere Ziele: eine Gesellschaft, in der jeder jeden denunziert und ein Klima der Angst herrscht. In diesem neuen System der Angst und Repression wird es nicht einmal mehr für nötig gehalten, passende Beweise zu schaffen. Vor dem 15. Juli hatten die Angeklagten zumindest die Chance nachzuweisen, dass Beweise falsch und Anschuldigungen haltlos waren.
Und wie ist die Situation seit dem Putschversuch?
Seit dem 15. Juli reicht es, dass Denunzianten Leute, die sie nicht mögen, als „FETÖ-Anhänger“ beschuldigen. Anhand solcher Anzeigen werden Listen erstellt und die Personen auf den Listen werden, ohne dass es weiterer Beweise bedarf, verhaftet, vor Gericht gestellt, verurteilt. Die Beweislast liegt jetzt zudem beim Angeklagten, doch da die Justiz es heute nicht einmal für nötig erachtet, Anzeigen mit Beweisen zu untermauern, ist es für die Angeklagten viel schwerer, die Anschuldigungen zu widerlegen.
Ist nach aktueller Rechtslage denn eine einfache Anzeige ein hinreichender Grund für eine Inhaftierung?
Bei unserer gültigen Rechtslage reicht eine Anzeige allein nicht aus, um Ermittlungen einzuleiten, geschweige denn Haftbefehl zu erlassen. Bei abstrakten, allgemeinen, in keiner Weise ernst zu nehmenden Denunziationen dürften keine Ermittlungen eingeleitet werden. Hinsichtlich der Ernsthaftigkeit einer Anzeige muss auch die Identität des Anzeigenden hinterfragt werden. Allerdings erleben wir in der aktuellen Praxis, dass Denunziation als hinreichendes Motiv für Verhaftung gewertet wird.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
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