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Den Nebel lichten

Branko Simic, der den diesjährigen Förderpreis für Theaterregie bekam, schätzt eher die schrille Radikalität. Sein Stück „Ritzen“ wird jetzt auf Kampnagel wieder aufgenommen

vno ANNETTE STIEKELE

„Ich weiß, dass ihr da draußen zuseht. Das ist nicht bloß eine Webcam. Ihr geilt euch auf, oder. Noch nie jemand ritzen gesehen? Geht am besten mit dem Stanley-Messer.“

Schockierende Worte einer 15-Jährigen. Sie „ritzt“, das bedeutet, sie schneidet sich mit einem Messer in die Unterarme. Selbstverletzung als Ventil für erlittenen Schmerz. Taugen solche Szenen für Teenager? Viele Jugendtheaterstücke sehen tatsächlich eher aus, als ob sie von Erwachsenen ausgesucht wurden. In Künstlerkreisen gelten sie immer noch irgendwie als minderwertig, pädagogisch.

Anders ist es bei Walter Kohls Monolog Ritzen. Regisseur Branco Simic balanciert hier auf schmalem Grat. Er rührt an Tabus und schockiert, ohne auf billigen Grusel zu vertrauen. Für seine mutige Inszenierung, die zum ersten Mal im Januar auf Kampnagel gezeigt wurde, erhielt der junge Regisseur gerade den Hamburger Förderpreis für Theaterregie 2002. Der 34-Jährige steckt mitten in den Endproben für die Wiederaufnahme auf Kampnagel. „Es ist die Aufgabe von Theater, Nebel zu lichten. Ich versuche, radikal zu sein, auch wenn es eine eher stille Radikalität ist“, erklärt Simic.

Vor knapp zehn Jahren flüchtete der Bosnier aus dem bürgerkriegsgeplagten Sarajewo. Zuvor hatte er dort Schauspiel an der Akademie der Szenischen Künste studiert. Unter anderem bei seinem Landsmann Emir Kusturica, mit dem ihn heute noch eine Art Hassliebe verbindet und über den er nicht so recht reden mag.

Gleichwohl hat er viel von ihm gelernt. Vor allem, dass man sich als Regisseur eine Plattform schaffen muss, von der aus man frei denken und politische Aussagen treffen kann.

Die Flucht führte Simic 1996 nach Hamburg und zum Regiestudium ans Institut für Theater, Musiktheater und Film der Universität Hamburg. Hier hatte er schon während der vier Studienjahre gute Möglichkeiten, sich auf kleineren Bühnen zu erproben und Kontakte zu knüpfen. In den Kammerspielen führte er Nature Morte nach Joseph Brodsky auf, im ehemaligen Thalia in der Kunsthalle (TiK) Was Ihr Wollt nach Shakespeare und Becketts Endspiel, in den Zeisehallen Kafkas Bericht für eine Akademie.

Nach dem Diplom inszenierte er bundesweit an kleineren Bühnen. Als ihm 1999 das Staatstheater Würzburg Familiengeschichte Belgrad von Bilijana Srbljanovic anbot, reagierte er zunächst skeptisch: „Stücke über den Jugoslawien-Konflikt inszeniere ich nur, wenn sie globalen Charakter haben. Da wird unglaublich viel banalisiert.“

Als er die Möglichkeit erhielt, Ritzen auf Kampnagel einzurichten, war er gleich begeistert. Das liegt nicht zuletzt an der Zusammenarbeit mit seiner Hauptdarstellerin. Für die Rolle des 15-Jährigen Mädchens, das sich ständig selbst verletzt, konnte er Gloria Brillowska, 14-Jährige Tochter der Hamburger Performanceartistin Mariola Brillowska gewinnen. Als Simic das Stück im September noch einmal in Greifswald herausbrachte, wurde viel über Dramaturgie und Vorgehensweise diskutiert. Immerhin geht es ja um Ritzen, Vergewaltigung und Sex. „Mit Gloria musste ich nicht viel besprechen. Die hat gleich erzählt, dass eine Freundin von ihr ritzt.“ Sorgen, das Stück könnte für die Schülerin zu hart sein, zerstreute ihre Mutter gleich. Gloria Brillowska ist von den Porno-Performances ihrer Mutter einiges gewohnt.

Das 15-Jährige Mädchen in dem Monolog ist eine Isolierte mit Videokamera, die mit perversen Männern im Internet kommuniziert, von 40-Jährigen vergewaltigt wird und eine stille Liebe für den Albaner Michi hegt. Sie verletzt sich selbst, um existentiellen Druck abzulassen. „Da geht es um 30 Sekunden Ruhe“, sagt Simic. Aber danach ist wieder alles da. Das Stück regt zum Nachdenken an. Serviert keine fertigen Lösungen. Sein Regisseur hält es bei Ritzen, wie bei all seinen Arbeiten mit Artaud: Je extremer die Situation, desto größer das poetische Potenzial.

Wiederaufnahme von „Ritzen“: heute, 11 Uhr, sowie morgen, 20 Uhr, Kampnagel (k1)

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