: Den Finger am Abzug
Auch in Deutschland können Unschuldige Opfer von Fehleinschätzungen der Polizei werden. Die Gesellschaft muss entscheiden: Sind wir bereit, uns aus Sicherheitsgründen erschießen zu lassen?
VON NATALIE TENBERG
Charles de Menezes ist ein Opfer staatlicher Gewalt geworden. „Töten oder getötet werden“ – diese Extremsituation stellt unsere Gesellschaft vor ein Dilemma. Der wirkungsvollste Schutz gegen Terroristen ist eine Gesellschaft, deren Bürger jederzeit akzeptieren, dass sie Opfer staatlicher Gewalt werden können. Dies ist aber gleichzeitig eine Gesellschaft, in der ein freies Leben unmöglich wird. Verschärft wird die Schwierigkeit der Abwägung dadurch, dass die Wahrnehmung der Gefahrensituation in Deutschland immer diffuser wird. Nicht nur von krimineller und terroristischer Seite lauert Gefahr, sondern auch von der staatlichen – die Gefahr des Rettungsschusses.
Dabei gibt es zwei verschiedene Szenarien, in denen ein Rettungsschuss von der Polizei abgefeuert werden darf: zum einen der finale Rettungsschuss, zum anderen die Notwehrsituation. Der finale Rettungsschuss ist ein tödlich verletzender Schuss, der von der Polizei als einsatztaktisches Mittel verwendet wird. Er fällt nicht aus der Situation heraus, sondern wird in ein Konzept für die Auflösung von Gefahrensituationen eingearbeitet. Dieses Szenario greift bei Geiselnahmen, beispielsweise einem Banküberfall, also einem eng definierten Raum. Der „finale Rettungsschuss“ ist im Polizeigesetz einiger Länder geregelt. Er setzt voraus, dass eine gegenwärtige Bedrohung des Lebens oder der Gesundheit einer Person vorliegt. Es darf keine andere Möglichkeit geben, diese Situation aufzulösen und es dürfen keine anderen Personen gefährdet werden. Der Schuss in der Notfallsituation wird abgegeben, wenn Polizeibeamte im Einsatz auf eine Bedrohungssituation treffen. Hier ist das Szenario weit weniger eng definiert – und dadurch geraten Beamte und Bevölkerung in Gefahr.
Bernd Carstensen, Pressesprecher des Bundes der Kriminalbeamten, fordert eine klare bundesweite Regelung für den Fall des finalen Rettungsschusses, sagt aber gleichzeitig, dass man in Notwehrsituationen BeamtInnen keine Checkliste mitgeben kann, die sie Punkt für Punkt abarbeiten müssen. Eine größere Bedrohung als die diffuse terroristische sieht Carstensen in der zunehmenden Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung.
Dass ein Fall wie die tragische Erschießung des Brasilianers in der Londoner U-Bahn auch in Deutschland vorkommen könnte, schließt er nicht aus. Die Verunsicherung nach den Schüssen von London könne nur durch Aufklärung und ethische Abwägung in der Politik gemindert werden, und diese sei dringend nötig.
Wer morgens in die U-Bahn steigt, möchte nicht tot auf den Gleisen landen. Weder als potenzielles Opfer noch als falsch Verdächtigter. Die Voraussetzungen und die Szenarien der Bedrohung sind überholt. Das Land braucht neue Regeln und eine gesellschaftliche Diskussion über polizeiliche Todesschüsse, die in der Politik fortgeführt wird. Und im Zweifel sollte die Entscheidung für eine freie Gesellschaft fallen, in der Charles de Menezes überlebt hätte.