: Den Alltag zersägen
Gordon Matta-Clark zerschneidet Häuser, um ihr Innenleben offenzulegen. Oder er ersteigert im Spiel mit urbanen Brachen ein Stück Bordsteinkante. Im Whitney Museum ist unter dem Titel „You Are the Measure“ eine große Retrospektive zu sehen
von BRIGITTE WERNEBURG
Die Kuratorin Elisabeth Sussman macht keine großen Umstände. Im obersten Stockwerk des Whitney Museum stellt sie als Erstes ein Stück ausgesägte Wand in den Ausstellungsrundgang: „Bingo“ (1974)! Es geht um Gordon Matta-Clark; jenen jungen Mann, der sich Anfang der 70er-Jahre mit dem Zersägen und Auseinandernehmen von Häusern einen Namen gemacht hatte. Damals erkannte er im gewöhnlichen Alltag den genuinen Arbeitsplatz des Künstlers; einen Handlungsraum voll unerschöpflicher Möglichkeiten, nicht um eigens entwickelte Objekte herzustellen, sondern um den Alltag selbst als Objekt künstlerischen und politischen Interesses zu bergen und ihn schließlich aus seiner Umgebung wortwörtlich herauszuschneiden.
Hier steckt der Alltag nun in der Hauswand mit ihren Tür- und Fensteröffnungen, ihrer Verkleidung mit roten Holzschindeln, dem grün gestrichenen Flur ihrer Innenseite samt dem Profil einer Treppe, die dort einmal ins nächste Geschoss führte. In einem Stück Haus, dem Gordon Matta-Clark den Feldern des Gewinnspiels entsprechende Stücke entnehmen konnte, weil das Farmarbeiterhaus in Niagara Falls, 349 Erie Street, nur noch die Abrissfirma interessierte. Die rückte allerdings so frühzeitig an, dass er nur drei von acht bereits ausgesägten Fassadenteilen retten konnte.
International schlagartig bekannt wurde der 1943 in New York geborene Künstler allerdings mit „Splitting“, einer anderen Aktion im Frühsommer des gleichen Jahrs. In wochenlanger Arbeit hatte er – ausgerüstet nur mit einer Kreissäge – ein Haus in Englewood, New Jersey, in zwei Hälften geteilt. Vom Dach bis zum freigelegten Fundament. Ein Film und eine Fotoserie zeigen eine Situation von bizarrem, surrealem Charme. Dank dem keilförmigen Schnitt dringt der Blick widerstandslos durch das Haus, merkwürdig entwaffnet wirkt, wie es da im hellen Sonnenlicht steht. Am Ende der Aktion verlor es noch die vier Ecken seines Dachs. Matta-Clark rettete sie als eine Art Trophäen.
Die dichte räumliche Präsentation von „Bingo“ und den „Corners“ komplettiert der „Fresh Air Cart“, ein zweisitziges Gefährt auf Rädern mit Sonnendach, das Matta-Clark 1972 konstruiert hatte, um Passanten in der Wall Street und auf dem Times Square ein paar Atemzüge reinen Sauerstoffs aus der Tankflasche anzubieten. Elisabeth Sussman geht offensiv mit der ausstellungstechnischen Schwachstelle in Gordon Matta-Clarks Werks um – den fehlenden dreidimensionalen Objekten. Sie sind rar, weil das Material, das Gordon Matta-Clark interessierte, das eines anonymen Alltags war. Im skulpturalen Relikt aber drohte es seine Anonymität zu verlieren und als singuläres Kunstobjekte wahrgenommen zu werden, was nicht in seiner Absicht lag.
Folgerichtig machte Michael Kimmelman, der Kunstkritiker der New York Times, die Unschuld der Kunstszene in Downtown Manhattan Anfang der 70er-Jahre zum zentralen Punkt seiner Besprechung. In den Gründertagen von SoHo, zu Zeiten billiger Mieten und schlechter Luft in einem vom Niedergang gezeichneten New York, waren ungewöhnliche Ideen an der Tagesordnung. Damals, als die Kunst nichts wert war und daher alles möglich schien, erregte die von Gordon Matta-Clark mitinitiierte Inbetriebnahme des alternativen Kunstraums in der Greene Street 112 nur wenig Aufsehen. Ähnlich wie die Eröffnung des Restaurants „Food“ an der Ecke Prince und Wooster Street, durch ihn und eine Gruppe befreundeter Künstler. „Ich zweifle nicht daran“, schreibt Kimmelman, „dass Matta-Clark ab sofort genauso schnell als der heißeste Tipp gilt, wie man David Zwirner Gallery sagen kann.“ Im Whitney immerhin sei zu sehen, was Gordon Matta-Clark damals wirklich anstrebte.
Es ist zu sehen. Zum Teil jedenfalls. „You Are The Measure“ – der Ausstellungstitel ist einer programmatischen Selbstbeschwörung Gordon Matta-Clarks entlehnt – sucht ganz offensichtlich dessen attraktivste Seite zu zeigen, und daher streicht sie zwangsläufig die formale Eleganz seiner Interventionen heraus, wie sie etwa in den großformatigen Cibachrome-Collagen zu „Office Baroque“ deutlich wird. Bei diesem Eingriff sägte er mit einem Mitarbeiterteam konische Schnitte durch mehrere Geschosse eines leer stehenden fünfstöckigen Geschäftsgebäudes in Antwerpen, wobei die Form durch drei kreisförmige Kaffeetassenränder auf einer Tischdecke angeregt worden war. Es war die letzte Arbeit, bevor Gordon Matta-Clark 1978, im Alter von 35 Jahren, an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb.
Sehr deutlich wird diese, seine formalistische Seite, sein von Strukturen faszinierter Blick auch in den Schwarzweißaufnahmen von „Conical Intersect“, einem Eingriff, den er 1975 für die Biennale in Paris ausführte. Die Abfolge immer kleiner werdender kreisförmiger Löcher, die er durch zwei barocke Mietshäuser aus dem 17. Jahrhundert fräste, wirbelt in einer Art tänzerischen Geste, einem elliptischen Sog durch die Gebäude, die bald darauf dem Centre Pompidou zum Opfer fallen sollten, das als modernistisches, rechtwinkliges Stahlskelett im Hintergrund aufragt.
Die kritische, die politisch inspirierte Seite seiner Aktionen dagegen verliert sich im kleinteiligen Ausstellungsmaterial der Zeichnungen, Planskizzen und Notizen. Am deutlichsten wird sie in den Filmen und Videos, mit denen Matta-Clark seine Aktionen dokumentierte. Sie machen den oft gefährlichen Arbeitsprozess selbst, die sich öffnenden Blickachsen und die nicht minder gefährliche Begehung der transformierten Gebäude durch Freunde, Mitarbeiter und wenige Besucher als integralen Bestandteil des künstlerischen Eingriffs erkennbar. Im Fall von „Conical Intersect“ sieht man das Trio, das am Durchbruch der äußeren Mauer arbeitet, kurz einen Can-Can auf einem Stück Fußboden tanzen, das ebenfalls bald der Vernichtung anheim fallen wird. Der Can-Can aber funktioniert wie eine Zeitschleife, die ins 19. Jahrhundert zurückführt und einen anderen Abrisskünstler in Erinnerung ruft, George-Eugène Baron Haussmann und seine Politik der Stadterneuerung als Politik sozialer Kontrolle.
Gordon Matta-Clark musste diese Assoziation geläufig sein. 1963 hatte er sein Architekturstudium an der Cornell University in Ithaka für ein Jahr unterbrochen, um bei seinem Vater Roberto Matta in Paris zu leben und an der Sorbonne Französische Literatur zu studieren. Auch sein Vater war als Architekt ausgebildet; nachdem er 1933 sein Geburtsland Chile in Richtung Paris verlassen hatte, begann er zu malen und avancierte zu einem bekannten Protagonisten der internationalen Kunstszene. Während des Zweiten Weltkriegs in New York zu Hause, verließ er seine Familie kurz nach der Geburt der Zwillingssöhne John Sebastian und Gordon (Taufpate war angeblich Marcel Duchamp) und kehrte 1948 nach Europa zurück.
Bei seinen wiederkehrenden Parisbesuchen wird Gordon Matta-Clark sehr wahrscheinlich auch auf die Situationistische Internationale (1957–1972) um Guy Debord gestoßen sein. Einen Nachhall auf deren Strategien einer anonymisierten, kollektiven Kunstproduktion oder des „Détournement“, der Zweckentfremdung, meint man jedenfalls in vielen seiner Unternehmungen zu verspüren, angefangen beim Kochen bis hin zu dem Arbeitskreis, der Matta-Clarks Begriff der Anarchitektur weiterentwickelte und dem unter anderen Laurie Anderson angehörte. In jedem Fall aber teilte er, bewusst oder unbewusst, die Annahme der Situationisten, das Problem des bebauten Raums liege weniger darin, soziale Machtverhältnisse zu repräsentieren, als vielmehr die Voraussetzung allen sozialen Handelns zu bilden und es dadurch zu determinieren.
Dieser Festlegung galt es zu widersprechen – indem man etwa am falschen Ort duschte. Wie in der „Clockshower“-Performance, als Matta-Clark 1974 in haarsträubend unbeschwerter Manier auf der Balustrade vor den riesigen Uhrzeigern des Clocktower-Building in Tribeca herumturnte und sich dabei die Zähne putzte, rasierte und duschte. Oder indem man, der Logik des Kapitals widersprechend, wertlose Grundstücke erwarb, wie die „Reality Porperties: Fake Estates“. 1973 ersteigerte Matta-Clark auf einer Auktion der Stadt New York 15 Segmente Grund und Boden, die bei Landverkäufen übrig geblieben waren, wie ein Stück Bürgersteig, einen Fußweg am Rand einer Auffahrt oder ein paar Meter Bordsteinkante. Ein Video zeigt ihn, wie er ausgerüstet mit Grundbucheinträgen und Flurnummern auf der Suche nach seinem Besitz ist und dabei die nächsten Anlieger in ihnen unverständliche Befragungen verwickelt; oder wie er durch abgeschlossene Umzäunungen hindurch ein paar Büsche erspäht, die er als sein Eigentum identifizierte.
Gerade weil das Video so extrem komisch ist, macht es deutlich, worauf Gordon Matta-Clark mit seinem künstlerischen Konzept zielte: auf einen utopischen Raum offener Möglichkeiten. Für ihn war er im noch undefinierten Raum zu finden, oder mit Gilles Deleuze gesprochen, im „beliebigen Raum“ der urbanen Brachen und – so gesehen – höchst kostbaren „Fake Estates“. Vor allem aber im mutwillig destruierten und somit umdefinierten Raum.
Es ist schade, dass die Ausstellung – auf Jahre hin, die maßgebliche Retrospektive – nicht den möglichen europäischen Einflüssen in Gordon Matta-Clarks Werk nachgeht. Nur Michael Kimmelman kommt in seiner Rezension auf Künstler der europäischen Avantgarde wie Boccioni, Kandinsky, Mondrian oder Fontana zu sprechen. Man könnte noch an die Architekten denken. An Adolf Loos und Le Corbusier, in dessen Büro Roberto Matta Anfang der 30er-Jahre arbeitete, an die beiden großen Propagandisten der Zerstörung als unumgänglicher Bedingung großer Kunst. Eine Behauptung, die die Werkschau Gordon Matta-Clarks unbedingt belegt.
Bis 3. Juni, Katalog (Yale University Press) 37,95 $. Am Wochenende 20./21. April findet in Berlin, im Rahmen der Ausstellung „Raum. Orte der Kunst“ im Hanseatenweg 10, jeweils von 10–19 Uhr eine internationale Tagung über den Architekten, Skriptor, Filmemacher, Fotografen, Choreografen, Koch und Künstler Gordon Matta-Clark statt, u. a. mit Elisabeth Sussman, Dan Graham, Pamela Lee und Mark Wigley