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Demonstrationen in der TürkeiStudis setzen Proteste fort

In Istanbul demonstrieren erneut Tausende gegen die Regierung. Die oppositionelle CHP und deutsche Politiker fordern stärkere Positionierung der EU.

Stu­den­t:in­nen protestieren aus Solidarität mit ihren Kommilitonen, die inhaftiert wurden. Instanbul, 8.4.2025 Foto: Francisco Seco/ap

Istanbul taz | Die siebzehn größten Istanbuler Universitäten riefen und alle kamen. Mit einer Großdemonstration in Kadıköy am Dienstagabend beendeten die StudentInnen Istanbuls die durch die Feiertage in der letzten Woche bedingte Protestpause. Wer erwartet hatte, dass die Proteste langsam einschlafen würden, sah sich getäuscht.

Trotz massiver Strafandrohungen versammelten sich tausende StudentInnen am Fähranleger in Kadıköy und forderten wahlweise „Demokratie und Gerechtigkeit“, die Freilassung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu oder den Rücktritt von Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

Trotz eines großen Polizeiaufgebots blieb es bis zum Ende der Veranstaltung friedlich. Das war bei den Protesten vor dem Istanbuler Rathaus vor gut einer Woche noch ganz anders. Immer wieder hatte die Polizei die DemonstrantInnen mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen, rund 2000 waren vorübergehend festgenommen, 300 in Untersuchungshaft gesteckt worden.

In einem Schnellverfahren hat die Istanbuler Staatsanwaltschaft bereits in 819 Fällen Anklage erhoben. Wegen der Teilnahme an verbotenen Demonstrationen und Beleidigung des Präsidenten fordern die Staatsanwälte Strafen bis zu 3 Jahren Haft. In einigen wenigen Fällen werden sogar 5 und 9 Jahre Haft gefordert.

Türkei unter Erdoğan

Seit dem Putschversuch 2016 entwickelt sich die Türkei unter Präsident Erdoğan weiter Richtung Autokratie. Das parlamentarische System wurde in ein Präsidialsystem umgewandelt und die Pressefreiheit stark eingeschränkt.

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CHP ruft zu Demonstrationen auf

Auch gegen den Vorsitzenden der oppositionellen CHP, Özgür Özel, geht Erdoğan jetzt juristisch vor. Seine Anwälte erstatteten Anzeige wegen Präsidentenbeleidigung, weil Özel Erdoğan in seiner Rede auf dem Parteitag der CHP am Sonntag als „Juntachef“ bezeichnet hatte.

Davon völlig unbeeindruckt hat die CHP für Mittwochabend ebenfalls wieder zu einer Demonstration für die Freilassung İmamoğlus aufgerufen. Sie soll im Stadtteil Sisli stattfinden, weil der dortige CHP-Bezirksbürgermeister wie zuvor İmamoğlu wegen angeblicher Korruption vom Amt suspendiert und durch einen staatlichen Zwangsverwalter ersetzt wurde.

Außerdem will die CHP am Wochenende eine Serie von Großveranstaltungen quer durchs Land starten, die in Samsun am Schwarzen Meer beginnen werden. „Wir werden so lange auf die Straße gehen, bis İmamoğlu wieder frei ist und der Präsident vorgezogenen Neuwahlen zustimmt“, sagte Özel am Sonntag. „Aber Erdoğan hat Angst vor Wahlen, Angst vor seinen politischen Kontrahenten und Angst vor der Nation!“

Opposition wünscht sich mehr Unterstützung von der EU

Mittlerweile sind auch erste internationale Solidaritätsbesuche in Istanbul angelaufen. Im Rahmen einer Veranstaltung des deutschen Städtetages mit türkischen Kommunen waren die parteilose Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, der Hannoveraner OB Belit Onay (Grüne) und der Bremer Bürgermeister und Ministerpräsident Andreas Bovenschulte (SPD) in der Stadt.

Henriette Reker besuchte Dilek İmamoğlu, die Frau des inhaftierten Ekrem İmamoğlu, und berichtete anschließend, die Familie sei sehr enttäuscht von den zurückhaltenden Reaktionen auf die Verhaftung in Europa. „Sie fühlen sich sehr im Stich gelassen, weil sich keine internationale Stimme wirklich dagegen erhebt“, sagte Reker gegenüber der Deutschen Presseagentur.

Dieselbe Botschaft bekam auch eine hochrangige Delegation der Grünen in Istanbul und Ankara vermittelt. Wie Co-Parteichef Felix Banaszak gegenüber deutschen Journalisten in Istanbul sagte, zeigten sich alle VertreterInnen der Zivilgesellschaft, mit denen sie sprechen konnten, „sehr enttäuscht, dass von Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen nicht mehr Unterstützung kommen würde“. Auch Terry Reintke, die grüne Fraktionschefin im EU-Parlament, die Banaszak begleitete, meinte, die Reaktion von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sei bislang „sehr mau gewesen“.

„Es wäre wichtig, dass von der Leyen sich deutlich positioniert“, sagte Reintke weiterhin. Die Grünen, wie die deutschen BürgermeisterInnen und vor ihnen schon drei Bürgermeister aus dem europäischen Städtenetzwerk Eurocities, hatten versucht, İmamoğlu im Gefängnis zu besuchen. Alle Anfragen wurden jedoch abgelehnt.

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1 Kommentar

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  • Wenn die Grünen sich mehr für die türkische Opposition einsetzen wollen, sollen sie sich doch an ihre Parteifreundin Annalena Baerbock wenden. Die ist ja bekanntlich immer noch geschäftsführende Bundesaußenministerin, wird es noch in den kommenden Wochen sein und bestimmt in dieser Funktion maßgeblich die Politik der EU in dieser Frage mit. Und sollte das irgendjemand hier anzweifeln: Auch geschäftsführende Bundesaußenminister können sehr wohl über Sanktionen mitentscheiden, das hat Baerbocks Vorgänger Heiko Maas bewiesen:

    www.rnd.de/politik...Z4YPN5ILLIPHI.html

    Was man sich von den Grünen hier wünschen würde, wären Taten, statt billiger Symbolpolitik.