Demonstrationen in Rumänien: Demokratie im Dunkeln
Die Proteste in Rumänien gehen weiter, obwohl die strittige Verordnung inzwischen zurückgenommen wurde. Es geht um mehr: den Rücktritt der Regierung.
In der Mitte des Platzes trotzt eine Handvoll Radfahrerinnen, kräftig strampelnd, der eisigen Kälte. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass ihre Räder fest montiert sind. Vor ihnen ein Pappschild mit der Aufschrift Nu legalizaţi hoţia – Keine Legalisierung von Diebstahl!. „Wir wollen zeigen, dass wir auch im Alltagsleben die Augen offenhalten“, sagt eine Radlerin. Doch es geht um mehr. „Wir wollen uns vorwärts bewegen, aber kommen nicht vom Fleck – so wie unser Land.“
Es ist die Korruption innerhalb der politischen Elite, die Rumänien lahmlegt. Vor knapp zwei Wochen hatte die neu gewählte Regierung ein Dekret zur Straffreiheit bei Amtsmissbrauch angekündigt – unterhalb einer Summe von umgerechnet knapp 45.000 Euro. Hunderte Politiker wären einer Strafverfolgung entgangen – unter ihnen der Chef der regierenden PSD, Liviu Dragnea. Doch so weit kam es nicht.
1989 ist präsent
Seit der Ankündigung ziehen Abend für Abend Menschen durch die Straßen; auch in anderen Städten des Landes gab es Demonstrationen, letzte Woche waren es an die 700.000 Teilnehmer. Staatspräsident Klaus Johannis solidarisierte sich mit den Demonstranten. Dass die Regierung die Verordnung inzwischen zurückgezogen, dass sie ein Misstrauensvotum überlebt hat, dass der Justizminister zurückgetreten ist, ja selbst, dass es nun ein Referendum zu der Frage geben soll – nichts konnte die Demonstranten bislang befriedigen. Sie fordern den Rücktritt der sozialdemokratischen Regierung unter Premierminister Sorin Grindeanu.
Inzwischen ist die Dämmerung angebrochen, immer mehr Demonstranten versammeln sich auf dem Platz. Elena Brodeala ist extra wegen der Proteste in ihre Heimat gekommen. Die 28-jährige Juristin promoviert derzeit in Florenz über Verfassungsrecht. Sie drückt ihrem Vater ein selbst beschriftetes Schild in die Hand. „Wir haben eine niedrige Rente, aber Ehrlichkeit ist uns wichtiger als Geld“ steht darauf. Eine Anspielung auf das Versprechen der Regierung, die Rente zu erhöhen.
Radu Brodeala ist mit 62 Jahren einer der älteren Teilnehmer. Er lebt sonst in einem kleinen Dorf in Transsilvanien, wollte aber seine Tochter besuchen und kam stattdessen mit ihr zu den Protesten. Ob es zwischen ihnen keinen Streit gibt? „Natürlich haben wir politische Differenzen, aber wir stehen auf derselben Seite“, sagt Elena Brodeala. „Ich bin schon lange gegen die PSD“, fügt ihr Vater hinzu. Das liegt auch an der Familiengeschichte, die von Dissidententum und dem Widerstand gegen den Kommunismus geprägt ist.
Ciprian Gal, Soziologe und Aktvist
Die Sprechchöre ringsum werden lauter. PSD, ciuma roşie! – PSD, rote Plage! Einige Demonstranten schwenken Rumänienflaggen mit einem Loch in der Mitte. Eine Erinnerung an die Proteste von 1989, als die Demonstranten das Wappen der Sozialistischen Republik Rumänien heraus schnitten. Die Vergangenheit ist auch hier präsent. Und die PSD – als indirekter Nachfolger der Kommunistischen Partei – steht für sie wie keine andere Partei. Auch wenn sie in Wirklichkeit eine konservative Kraft mit teils nationalistischen und antieuropäischen Stimmen ist.
„Wir haben geschlafen“
„Mich macht vor allem diese Selbstgerechtigkeit, mit der sie ihre Entscheidungen treffen, wütend“, sagt Ciprian Gal, „was glauben sie denn? Dass wir schweigend zusehen?“ Der 29-Jährige wärmt sich in einem Café in der Innenstadt Bukarests auf. Der Kaffee wird auf kleinen runden Holzbrettchen serviert. Das Publikum ist jung, die Universität gleich um die Ecke. Von Unruhe oder Ausnahmezustand ist hier nichts zu spüren.
Gal hat Soziologie studiert, inzwischen arbeitet er für eine große NGO. Seit Beginn der Proteste verbringt auch er fast jeden Abend auf dem Platz des Sieges. Es ist nicht das erste Mal, dass er gegen Korruption und die Arroganz der Mächtigen demonstriert. Im Oktober 2015 war es zu einem Brand im Bukarester Klub Colektiv gekommen. Sicherheitsvorkehrungen waren ignoriert worden, Verantwortliche bestochen. 64 Menschen starben, über hundert wurden verletzt. „Ich kannte einige von ihnen“, Ciprian schaut im Raum umher, als würde er nach den Überlebenden Ausschau halten. „Irgendwann verwandelte sich unser Schmerz in Ärger.“
Die Proteste im Jahr 2015 gegen die Regierung unter Premierminister Victor Ponta, gegen den zu dieser Zeit bereits wegen Betrug ermittelt wurde, führten dazu, dass die Regierung nach wenigen Tagen zurücktrat. Bis zu den nächsten Wahlen wurde eine Interimsregierung aus Technokraten gebildet. „Es war das erste Mal, dass wir uns gehört fühlten“, versucht Ciprian Gal zu erklären, „Wir waren so froh über die Art und Weise, wie die neue Regierung arbeitete, dass wir ein Jahr lang geschlafen haben.“ Bei den Wahlen im Dezember 2016 wird die PSD zur Überraschung vieler wieder stärkste Partei. Die Wahlbeteiligung ist niedrig, viele junge Menschen gehen nicht zur Wahl.
Ciprian nimmt einen Schluck von seinem Cappuccino. Im Hintergrund läuft Elektro. „Was wir hier erleben, ist auch ein Generationenkonflikt“, sagt er. Ein Telefonat mit seinen Eltern vor ein paar Tagen endete im Streit. Während Ciprian gegen die regierende PSD demonstriert, verteidigen seine Eltern sie als Partei, die sich um die Menschen kümmere. Sie fühlen sich abgehängt, glaubt er, verstehen die Sprache der progressiven Kräfte nicht. Deswegen klammern sie sich an das, was ihnen vertraut ist.
Klein aber laut: die Gegendemonstranten
Vor der Residenz des Präsidenten lässt sich das auf zugespitzte Art beobachten. Der Cotroceni-Palast liegt im Westen der Stadt, etwas außerhalb des Zentrums. Im Vergleich zum Haus des Volkes, Nicolae Ceaușescus ehemaliger Machtzentrale, in der heute das Parlament untergebracht ist, wirkt der Präsidentenpalast fast winzig. Die Bürgersteige sind mit einer Eisschicht überzogen, aus den Gullys steigt weißer Dampf. Am Nachmittag haben sich hier etwa vierzig Demonstranten versammelt. Der Altersdurchschnitt liegt bei mindestens fünfzig Jahren. Mit Vuvuzelas und Plakaten fordern sie lautstark den Rücktritt von Klaus Johannis, der – wie schon 2015 – sich auf die Seite der Protestierenden gestellt hat.
„Der Präsident hat unser Land verraten“, ruft ein älterer Mann mit erhobenen Zeigefinger. „Die Proteste gegen die Regierung sind vom Geheimdienst geplant und organisiert“, schreit ein anderer Mann. Immer mehr wütende Zeigefinger schießen in die Höhe, dafür dass die Gruppe relativ klein ist, macht sie relativ viel Lärm. Alle sprechen aufgeregt durcheinander. Die Regierung sei demokratisch gewählt worden, man könne ihr nicht ihre Wahlstimmen nehmen. Was einem hier entgegenschlägt, ist eine Mischung aus persönlichem Frust, Verschwörungstheorien und dem Gefühl, nicht gehört zu werden.
Die Regierungsbefürworter sind jedoch weit in der Minderheit. Am Abend sind wieder Tausende Menschen auf dem Platz des Sieges versammelt, trotz minus zwölf Grad, die meisten tragen dicke Pelzjacken oder Skianzüge. Sie haben selbst gebastelte Pappschilder dabei und schwenken Fahnen. Polizisten beginnen die Absperrgitter aufzustellen. Die Stimmung ist friedlich. Am Rand des Platzes verteilt eine junge Frau in Pelzmütze heißen Tee. Als sie erfährt, dass auch Reporter aus dem Ausland da sind, lächelt sie. „Die ganze Welt schaut auf uns. Ich bin so stolz auf unser Land.“ Ihre Worte verstummen in den Sprechchören der Demonstranten. Demisia! – Rücktritt!
Bis zum Rücktritt bleiben
„Ich hoffe natürlich, dass diese Regierung zurücktritt“, antwortet die Studentin Elena Brodeala auf die Frage nach ihren Erwartungen. „Trotzdem werden wir weiterhin eine sozialdemokratische Regierung haben. Schließlich haben sie die Wahl gewonnen.“ Die angehende Juristin respektiert die demokratischen Spielregeln, während die Regierung sie missachtet, und so viel erwartet sie von einer Demokratie: Transparenz und – dass sie gehört werden. Viele sind wie sie dank des Streits über das inzwischen berühmte Dekret OUG 13 zu Rechtsexperten geworden. Auch Brodeala teilt ihr Fachwissen – auf Facebook. „Das hier ist auch ein Stück politische Bildung“, sagt sie lächelnd.
Der Großteil der Demonstranten ist unter vierzig, doch es sind auch Kinder und Rentner dabei. Eine ältere Frau hält ein Schild hoch mit der Aufschrift „Wach auf, Rumänien“. Ihre Augen tränen vor Kälte. Warum sie hier ist? „Ich möchte nicht, dass so viele Menschen für nichts gestorben sind“, sagt sie. Unter dem Arm trägt sie ein Buch über die Revolution. Darauf zu sehen ist ein Bild von Nicolae Ceaușescu. „Wir wollen keinen neuen Diktator“, fügt sie hinzu und meint damit den Chef der PSD, Liviu Dragnea.
Plötzlich läuft ein junger Mann mit EU-Flagge auf Elena Brodeala und ihren Vater zu und fragt, ob er ein Foto von ihnen machen könne. Er will seinem Vater beweisen, dass es möglich ist, dass Eltern und Kinder gemeinsam demonstrieren.
„Ehrlich gesagt, glaube ich, dass die Proteste bald abklingen werden“, hat Ciprian Gal im Café gesagt. „Aber wir sind wachsam. Wenn die Regierung wieder so etwas probiert, kommen wir zurück.“ Noch sind sie da. Am Sonntagabend versammeln sich 70.000 Menschen auf dem Platz de Sieges, so viele wie schon seit Tagen nicht mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Koalitionsvertrag in Brandenburg steht
Denkbar knappste Mehrheit
Verfassungsrechtler für AfD-Verbot
„Den Staat vor Unterminierung schützen“