Demokratie auf dem Prüfstand: Vom Wutbürger zum Mutbürger

Die diesjährigen Frankfurter Römerberggespräche standen unter dem Motto: "Gefällt mir nicht". Eine Suche nach den wahren Schuldigen der Krise.

"Gefällt mir nicht" war das Motto der Frankfurter Römerberggespräche - Occupy-Camp in Frankfurt. Bild: dpa

Optimales Timing: Die Volksabstimmung über den Stuttgarter Bahnhof ist vorbei. Die Occupy-Bewegung campiert in Frankfurt direkt gegenüber dem Rathaus. Die Piratenpartei trifft sich in Offenbach. Und die "Römerberggespräche" in der Mainmetropole standen in diesem Jahr unter dem Titel "Gefällt mir nicht" und "Demokratie auf dem Prüfstand".

Der Soziologe Heinz Bude (Kassel) eröffnete die Veranstaltung mit einem farbigen Tableau der weltweiten Protestbewegungen. Diese Bewegungen sind in der Tat regional und lokal ganz unterschiedlich und gleichen sich allenfalls in ihrem tief sitzenden politischen Unbehagen, im Vertrauensverlust in die Regulationskapazität der Institutionen und vor allem in punkto politischer Leidenschaft.

Um die Chancen der Protestbewegungen einzuschätzen, bräuchte man einen Maßstab. Aber der fehlt, denn ein Vergleich mit der weltweiten 68er Bewegung bringt nur einen Punkt der Übereinstimmung: Vielfalt und Buntheit.

Diese formalen Charakteristika taugen aber nicht für eine Bewertung. Budes Versuch, die Proteste als Abrechnung mit dem "Ende einer Periode - der neoliberalen Unordnung" einzuordnen, könnte nur gelingen, wenn über den Ursprung von Finanz- und Staatsschuldenkrise Klarheit bestünde.

Während Bude von einer "Gleichursprünglichkeit" und damit von diffusen Ursachen der beiden Krisen auszugehen scheint, zeigte Paul Ingenday, der Spanienkorrespondent der FAZ, dass die Staatsschuldenkrise in Spanien nicht primär vom Staat verursacht wurde, sondern von den Banken, Investmentfonds und Spekulanten.

Die Demokratie ist schuld

Der Historiker Werner Plumpe dagegen sieht Staat und Demokratie als Verursacher der Schuldenkrise. Seine etwas schlichte Begründung: "Der Kapitalismus möchte produzieren", "Verteilungsfragen" seien ihm so "gleichgültig" wie moralische Fragen: Kapital tut, was es tun muss. Krisen entstehen nur, weil Politiker regulieren wollen.

Die Tatsachen sprechen gegen das interessierte Gerücht von den sich selbst regulierenden Märkten. Spaniens Staatsschuld etwa ist eine der geringsten in der EU, aber die spanischen Bürger leiden am stärksten unter der Krise. Ihnen wurde von den davon profitierenden Banken Wohnungs- und Hauseigentum auf Kredit geradezu aufgedrängt - wie in den USA, wo Rüstungs- und Kriegspolitik seit dem Vietnamkrieg mehr zur Staatsverschuldung beitrugen als die Immobilienkrise, der nicht existierende Wohlfahrtsstaat oder "die Demokratie" (Plumpe).

Als die flexiblen Hypothekarzinsen in Spanien zu steigen begannen, kamen zuerst die Bürger in Not, dann die Banken, die schließlich vom Staat gerettet werden mussten. Die Banken und Investmentfonds verdienten jahrzehntelang an Staatsanleihen. Doch als sich die Schuldnerstaaten, nach neoliberalen Steuersenkungsprogrammen, der Pleite näherten, sprangen die EZB mit dem Kauf von Anleihen, die EU mit ihren Rettungsschirmen und der Währungsfonds ein, nicht um die Staaten zu retten, sondern die privaten Banken.

Die weltweiten Protestbewegungen denunzieren diese Kumpanei von Staat und Finanzsystem und die gläuberhörige Sparpolitik auf Kosten der Völker. Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer demonstrierte die parallele Entwicklung von Demokratieentleerung und Ökonomisierung der sozialen Beziehungen.

Macht der Wirtschaft

Während der Staat durch die Globalisierung Kontrollkapazitäten verliert, gewinnt die Wirtschaft durch die Privatisierung von öffentlichen Leistungen und den marktgerechten Umbau von sozialen Beziehungen Kontrollbefugnisse. Die Wirkungen dieser beiden Prozesse sind Demokratie gleichermaßen abträglich.

Claus Leggewie (Essen) fiel die undankbare Aufgabe zu, die Tagung zusammenzufassen und Wege in die Zukunft zu skizzieren. Sein Vorschlag: Das feuilletonsoziologische Konstrukt des "Wutbürgers" soll umgebaut werden zu dem des "Mutbürgers".

Als solche sollen die Bürgerinnen und Bürger in "Zukunftskammern" den demokratischen Institutionen Ratschläge und Pläne gegen die angebliche Alternativlosigkeit des Status quo liefern. Diese Kammern dürfen Modelle entwickeln für die Organisation der Energiewende ebenso wie für den Umbau von Städten jenseits der schwarzen Utopie der "autogerechten" Stadt.

Leggewies Vorschläge ähneln freilich bis in die Details jenen, die der Wuppertaler Soziologe Peter C. Dienel unter der Marke "Planungszellen" bereits in den siebziger Jahren vorlegte. Aber das wusste das heftig applaudierende Publikum nicht - im Unterschied zur kundigen Sitznachbarin des Berichterstatters.

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