Demografie-Theater: Der Schatz im Silbersee
Bühne frei für Alte. Das Essener Theater nimmt das Älterwerden der Gesellschaft ernst. Alte Laiendarsteller entwickeln Stücke, die ihre Erfahrungen verhandeln.
P lötzlich wird Willi Nienhaus sauer: "Ihr wollt uns beiseiteschieben? Wir haben hier nichts mehr zu melden? Jeunesse dorée - von wegen Generationenvertrag nicht erfüllen. Das läuft nicht, Freunde. Ganz und gar nicht." Und dann hagelt es vom Laufsteg auf der Bühne des Essener Theaters Vorwürfe. Die Adressaten sind jugendliche Migranten, die mit cooler Lässigkeit das geriatrische Trommelfeuer über sich ergehen lassen.
Willi Nienhaus spielt in dem Stück "Liebe" am Essener Schauspiel; er ist 72 und Mitglied des vor zwei Jahren eingerichteten Altenclubs, dem 25 Senioren angehören. Sie sind zwischen 60 und 78 Jahre alt. Nachdem sie sich in ihrer Einstandsproduktion "Alte Helden" mit den Heldenbildern ihrer Generation befasst haben, stehen sie jetzt zusammen mit dem Jugendclub in der "Liebe"-Produktion auf der Bühne. Einem Abend, der in Liedern und kurzen Spielszenen von Anmache und Liebeskummer erzählt, von Traummännern und -frauen und von Sexualität. Vor allem aber geht es um die Klischees beider Generationen - ob das nun die Selbstbeweihräucherung der Wiederaufbau-Generation oder der drastisch formulierten Ekel der Jungen vor Alterssexualität ist.
Die "Liebe"-Produktion am Essener Schauspiel ist nur ein Beispiel dafür, wie die Stadttheater in NRW - aber auch anderswo - die Alten entdecken. Das Schlosstheater Moers beeindruckte vor zwei Jahren mit einem "Demenz"-Projekt; das Oberhausener Theater hat einen Club "50 plus" eingerichtet, Krefeld und Dortmund kündigen für den Herbst "generationenübergreifende Projekte" mit Laien an. Konzentrierte man sich bisher eher auf Jugendclubs und überließ die Arbeit mit den Alten dem freien Theater, so hat die Popularisierung der Demografiedebatte die Stadttheater offenbar zum Umdenken bewogen.
Natürlich hilft der Kampf um den senioralen "Silbersee" bei der Kompensation des Besucherrückgangs im Theater. Das Marktpotenzial der bald in Rente gehenden, finanzstarken und gebildeten Babyboomer-Generation (ab 1955) ist für Kulturinstitutionen nicht zu unterschätzen. Doch bei den Bühnen zeigt sich hier auch ein neuer emphatischer Begriff von "Stadttheater". "Wir sind draufgekommen", sagt Essens Schauspielintendant Anselm Weber im Gespräch, "weil wir uns mit der Region und der Stadt ständig beschäftigen." Die "Liebe"-Produktion ist Teil eines Stadterkundungsprojekts mit dem Titel "GlaubeLiebeHoffnung", bei dessen Konzeption man bald auf das Thema Überalterung gestoßen sei. So sagt eine 2006 von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte Studie Essen für 2020 eine Schrumpfung um 6,3 Prozent und ein Medienalter von 47,3 Jahren voraus. Ähnliche Prognosen existieren für viele andere Städte im Ruhrgebiet.
Einen zusätzlichen Anstoß lieferte das dokufiktionale, biografische Theater einer Gruppe wie Rimini Protokoll, deren Arbeiten zeigen, wie man mit Laien zu künstlerisch anspruchsvollen Ergebnissen kommt. Für die Produktionen des Essener Seniorenclubs bedeutet dies ganz programmatisch, dass die Biografie der Mitglieder das Material der Stücke liefert. Anselm Weber: "Die Idee ist nicht, dass die Alten 'Emilia Galotti' spielen, sondern dass das, was sie und ihre Generation betrifft, zum Thema gemacht wird."
Es gibt zwar Seniorentheater, die sich aus dem Repertoire bedienen; so spielte das Düsseldorfer SeTa-Theater Ferdinand Bruckners "Krankheit der Jugend"; in Dortmund wagt man sich an "König Lear". Doch die Mehrzahl arbeitet mit der "biografischen Methode". Das hat seinen Grund in der Entstehung des Seniorentheaters aus der Sozialarbeit in den späten 1970er-Jahren. Mirjam Strunk, die zusammen mit Ines Habich die "Liebe"-Produktion inszeniert hat, erzählt im Gespräch von der Schwerhörigkeit von Darstellern oder notwendigen Sitzmöglichkeiten auf der Bühne, die in die Inszenierung einfließen, allmählich aber in den Hintergrund treten: "Im Verlauf eines halben Jahres wird das dann zu einem künstlerischen Projekt, bei dem ich mich zunehmend von sozialen Aspekten verabschiede."
Nicht zuletzt hat der Rückgriff auf die Biografie der Mitwirkenden auch eine soziokulturelle Funktion. Ulrike Czermak, die am Demenz-Projekt des Moerser Schlosstheaters mitgearbeitet hat und das dortige Altentheater Bilanz leitet: "Seniorentheater hat auch eine Funktion von mündlicher Geschichte und gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung." Neben ihrer Arbeit in Moers wird Ulrike Czermak die vom NRW-Kultursekretariat eingerichtete "Seniorentheaterplattform" leiten, die im August am Gelsenkirchener Consol Theater ihre Arbeit aufnimmt: "Ziel ist, ein Forum zu schaffen, wo ganz unterschiedliche Seniorentheatergruppen aus NRW sich in Gastspielen unter professionellen Theaterbedingungen präsentieren können." Dem Gastspielbetrieb soll später eventuell die Entwicklung eigener Produktionen folgen. Das Engagement der Stadttheater sieht Ulrike Czermak dabei nicht als Konkurrenz, sondern eher als Unterstützung. Mit ihren PR-Abteilungen könnten sie die Öffentlichkeit ganz anders auf das Seniorentheater aufmerksam machen als freie Gruppen.
Vor allem aber soll sich die Seniorentheaterplattform, so Ulrike Czermak, um "die Ausbildung und Qualifizierung von Leitern der Seniorentheater kümmern". Das Gelsenkirchener Projekt reiht sich damit in die Offensive der schwarz-gelben NRW-Landesregierung ein, die im April durch eine Anhörung im Landtag zum Thema "Kultur und Alter" sowie durch die Einrichtung eines gleichnamigen Referats durch Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff vorangetrieben wurde. Wie bei der Erderwärmung gilt auch hier: Wenn der Silbersee der Senioren über die Ufer tritt, kommt Bewegung in die Sache.
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