piwik no script img

Deichbau und GrößenwahnDer Mythos vom Schimmelreiter

Der Husumer Theodor Storm schrieb mit dem „Schimmelreiter“ eine Deichbau- und Gespensternovelle, die schnell zum friesischen Nationalepos verklärt wurde.

Hauke Haien als charismatischer Führer: Mathias Wiemann als "Schimmelreiter" in Hans Deppes und Curt Oertels Verfilmung von 1933. Bild: Imago

HAMBURG taz | Sein Gelb wirkt wie ein Schrei. Das ist kein Zufall, denn Theodor Storm wusste Effekte zu setzen: Der kleine gelbe Hund, den die Arbeiter in der Novelle „Der Schimmelreiter“ in den Deich werfen, winselt ganz erbärmlich. Und hätte ihn Storm nicht gelb, sondern hellbraun gemacht – man hätte ihn längst vergessen.

So aber bildet der Hund einen im Wortsinn leuchtenden Link zum zentralen Thema der 1888 edierten Novelle, einer Ikone des Poetischen Realismus: den Zusammenprall von moderner Deichbautechnik und Aberglauben. Hier demonstriert anhand des absurden Versuchs, den exakt berechneten Deich durch ein Tieropfer haltbar zu machen. „Es muss was Lebigs in den Deich“, raunen die Leute und murren, als der Deichgraf es verhindert.

Mehr als ein Heimatroman

Die Geschichte vom Deichgrafen Hauke Haien, der gegen das Meer und den Geisterglauben der nordfriesischen Dorfbewohner kämpft, ist beliebt wie eh und je, und das verwundert: Was fasziniert an einer Geschichte, die im 17. und 19. Jahrhundert spielt und von Gespenstern und Deichbau handelt? Ist der „Schimmelreiter“ nicht ein Stück Heimatliteratur, das die Leute wegen des Lokalkolorits schätzen?

„Ganz und gar nicht“, sagt Thomas Steensen, Leiter des Nordfriesischen Instituts in Bredstedt. „Es ist ein vieldeutiges Werk über den Kampf eines Menschen und sein Scheitern. Als bloßes Landschaftsporträt wäre es nie zur Weltliteratur geworden, die man sogar in den USA und Japan liest.“

Diese Weltliteratur war allerdings anfällig für Vereinnahmungen durch die Nationalsozialisten: Curt Oertels und Hans Deppes Film von 1933 zeichnet Hauke Haien als heroische Führerfigur. Seine geistig behinderte Tochter Wienke dagegen fehlt; sie passte nicht zur NS-Ideologie. Doch auch der ZDF-Film von 1978 nach dem Buch von Alfred Weidenmann verkürzt Wienkes Schicksal auf eine Totgeburt.

Dass Storm selbst keine Klischees wollte, weiß Steensen sicher. „Mit dem wortkargen, blonden Friesen hatte Storm nichts am Hut.“ Tatsächlich präsentiert Storm einen vielschichtigen Haien: Zwar ist der technisch versiert und lässt vorausschauend einen neuen Deich bauen, andererseits fehlt ihm jede soziale Kompetenz. Seinen Schimmel hat er von einem finsteren Händler gekauft, und von Stund an ist das alte Pferdeskelett von der Jevershallig verschwunden.

Also zerreißen sich die Dorfbewohner die Mäuler über Haien: Steht er etwa mit dem Teufel im Bunde? Als seine Frau mit dem Tod ringt, zweifelt er obendrein Gottes Allmacht an – ein Frevel für die Dorfbewohner, die ansonsten Aberglauben und Kirche ganz gut zusammenbringen.

Auch Storm glaubte übrigens an Geister. „Dabei war er Atheist und hielt sich für einen aufgeklärten Menschen“, sagt Heinrich Detering, Präsident der Storm-Gesellschaft. Wenn man Storm auf den Widerspruch hinwies, sagte er, dass diese Dinge bloß noch nicht erforscht seien. „Er fand, dass unser Alltag nur eine Handbreit vom Mysterium entfernt sei“, sagt Detering.

Dieses Mysterium konkurrierender Realitäten zelebriert Storm im „Schimmelreiter“ ausführlich. Dabei spielt er so geschickt mit Erzählebenen und unzuverlässigen Berichterstattern, dass auch der Leser ins Schleudern kommt. Und sicher war es Storm ein Vergnügen, die Novelle mit einem nüchternen Geschäftsmann zu beginnen, der das Schimmelreiter-Gespenst sieht. Will uns Storm ernsthaft erzählen, dass es Geister gibt?

Es bleibt vage, und hier läge eine Erklärung für die konstante Beliebtheit des Stoffs: Die Akzeptanz multipler Perspektiven und die Entlarvung von „Realität“ als subjektive Setzung sind in Zeiten von Post-Dekonstruktivismus und Quantenphysik sehr aktuell.

Das erklärt den Dauerbrenner „Schimmelreiter“ aber nicht allein, und tatsächlich ist da noch etwas: die Sehnsucht nach dem Herunterbrechen globaler Fragen auf die Region, der Transfair in die Nahsicht, in der man sich wiederfinden kann. „Der Schimmelreiter ist zum friesischen Nationalepos geworden“, sagt Steensen vom Nordfriesischen Institut. „95 Prozent der Friesen, die wir fragen, womit sie sich am stärksten identifizieren, nennen den Schimmelreiter.“

Stoff von der Weichsel

Das ist apart, denn der Stoff kommt gar nicht aus Nordfriesland. Die Sage vom „Gespenstigen Reiter“, der bei Gefahr erscheint, stammt von der Weichsel. Storm hatte die Geschichte als Kind gelesen und viele Jahre später wieder aus dem Gedächtnis gekramt. Es war mühsam, aus der Gespenstersage eine Novelle zu machen. Aber er schaffte es, indem er so viel Authentisches hineingab, dass das Werk zum regionalen Epos verklärt wurde.

Das liegt auch daran, dass Storm darin das Grundmotiv der nordfriesischen Landschaft verarbeitet – Landverlust und Landgewinnung: Man wirtschaftet auf dem Land, das die Vorfahren dem Meer abtrotzten. Dass ein literarisches Werk zu diesem Thema fehle, monierte Hans Christian Andersen schon 1844.

Storm hat die Lücke 1888 gefüllt, und seine Küstenschutz-Novelle wirkt so plausibel, dass Reisende und Amateurhistoriker bis heute versuchen, Hauke Haiens Weg exakt nachzuzeichnen. Manchmal wird auch nachgeholfen, indem eine Kneipe kurzerhand zum „Schimmelreiter-Krug“ wird oder ein Deichvorland zum „Hauke-Haien-Koog“. Dessen Name allerdings ist mehr als ein Tourismus-Gag: Der um 1960 geschaffene Koog enthielt als erster Gebiete, die weder besiedelt noch bewirtschaftet werden, sondern als Speicherbecken dienen. Er markiert also eine Wende in der Landgewinnungspolitik und verkörpert eine ähnlich revolutionäre Idee, wie Storm sie Haien zuschreibt.

Doch hier irrt Storm, denn Hauke Haiens flache Deichböschung war keine revolutionäre Erfindung des 19. Jahrhunderts. „Archäologische Funde zeigen, dass schon die Deiche des Mittelalters keine senkrechten Stackdeiche hatten, sondern flache Böschungen“, sagt der Storm-Experte Gerd Eversberg. Der Mythos vom Technik-Revolutionär Haien sei also falsch.

Und der Mythos von Haien, der sich reuig in die Fluten stürzt? Auch er steht auf tönernen Füßen. „Ich bekenn es, ich habe meines Amtes schlecht gewaltet“, ruft er, als der alte Deich bricht, den zu flicken er versäumte. Aber trägt er echte Schuld? „Man muss das nicht metaphysisch überhöhen, dass der Held in seiner Größe scheitert, weil er die kleinen Dinge nicht sieht“, sagt Eversberg. Storm biete auch eine rationale Erklärung: Als Haien die Reparatur unterließ, genas er von der Malaria und war – typisches Symptom – entscheidungsschwach.

Haiens Schuld bleibt offen

Aber warum beging Haien dann Suizid? „Schuld an Haiens Tod ist das Versagen seiner Frau Elke, die samt Kind in die Flutkatastrophe hineinfährt und vor Haiens Augen ertrinkt“, findet Eversberg. Und sein Ausruf „Herr Gott, nimm mich, verschon die Andern!“ sei Unsinn. „Alle anderen waren gerettet.“ Ein ambivalentes Ende mit einer Weltuntergangsszene, von der es nur eine Handbreit wäre bis zu Storms zunächst geplantem Schluss. Darin sollte der Teufel Haien holen.

Vielleicht starb Haien aber auch durch ein Komplott der Dorfbewohner. Dieses Ende – sowie eine überlebende Wienke, die als Erwachsene zurückkommt – schlagen Andrea Paluch und Robert Habeck in ihrem 2001 edierten Krimi „Hauke Haiens Tod“ vor.

Verfolgt man die Idee divergierender Wahrheiten zu Ende, reicht sie bis ins Biografische: Als Storm während der Arbeit an der Novelle erfuhr, dass er unheilbar krank sei, brach er zusammen. Die Familie schmiedete daraufhin ein Komplott mit dem Arzt: Es sei eine Fehldiagnose gewesen, erklärte er Storm. Es half. Storm lebte auf, beendete die Novelle und starb kurz vor Erscheinen der Erstausgabe.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!