Debatte: Die Multilateralisten sind zurück
Der Baker-Bericht zum Irak markiert eine Wende in der US-Außenpolitik. Die Neocons sind entmachtet - aber es bleibt fraglich, ob sich der Schaden ihrer Politik beheben lässt
N un haben sie gesprochen, die zehn Weisen aus den beiden US-amerikanischen Parlamentsparteien. Am Mittwoch wurde mit viel Aplomb der Bericht der Baker-Hamilton-Kommission über die Irakpolitik an den Präsidenten der Vereinigten Staaten übergeben. Der fand die Aussagen der Kommission zur Lage im Irak "hart"
Der Kommissionsbericht hat zwei Dimensionen. Eine ist eher konkret und richtet sich auf die Situation im Irak sowie mögliche Auswege dort; die andere betrifft die Philosophie der amerikanischen Außenpolitik und könnte insoweit in ihren Wirkungen sehr viel weiter reichen. In Bezug auf den Irak nimmt der Bericht kein Blatt vor den Mund. Wer ihn sorgfältig liest, hört das Verdikt über das Scheitern der Bush-Politik deutlich heraus: Im Irak herrsche Bürgerkrieg, die Truppen der USA und ihrer Verbündeten würden der Lage nicht Herr und ein Sieg sei nicht in Sicht.
Was die Heilmittel angeht, nehmen Baker und Co. noch deutlich Rücksicht auf den Präsidenten. Sie verzichten auf ein konkretes Datum für den völligen Abzug. Gleichzeitig insistieren die Autoren des Baker-Hamilton-Berichts jedoch darauf, dass im Frühjahr 2008 die meisten Kampfbrigaden zurück in den USA sein sollen und die Hauptverantwortung für die innere Sicherheit an die Iraker übergegangen sein soll. Die Rolle der amerikanischen Streitkräfte soll im Wesentlichen darin bestehen, die Iraker zu unterstützen, zu beraten und auszubilden. Die Analogien zur "Vietnamisierung" des Vietnamkrieges springen ins Auge: Dieser Versuch endete 1975 bekanntlich mit dem endgültigen Sieg des Feindes der USA, der Regierung von Nordvietnam.
Im Baker-Hamilton-Bericht fällt noch ein weiterer Unterschied zur gegenwärtigen Praxis im Irak auf: Die US-Regierung wird ultimativ aufgefordert, die Hilfe für die irakische Führung ganz einzustellen, wenn diese nicht effektiv und erwartungsgemäß handeln sollte. Es gibt also keine "unbedingte Solidarität" mit dem politischen Homunkulus, den die USA im Irak geschaffen haben. Bewegt er sich nicht in die richtige Richtung, ist es mit der Hilfe vorbei - anscheinend ohne Rücksicht auf die Konsequenzen vor Ort. Es ist wenig verwunderlich, dass George W. Bush diesen Vorschlag "hart" findet.
Was die breitere Philosophie der Außenpolitik angeht, räumt der Bericht mit den ideologischen Ikonen der Neokonservativen auf: Die "Achse des Bösen" soll zum Gesprächspartner werden, nicht aus neuentdeckter Liebe, sondern aus nüchtern festgestellter Notwendigkeit. Ohne die Mitwirkung von Syrien und Iran wird es in der Region keine Ruhe geben. Also muss man ihre Interessen wenigstens teilweise berücksichtigen. Damit ist keine hemmungslose Kapitulation vor den Wünschen jener Diktaturen ins Auge gefasst, sondern eine Kombination von Eindämmung und Kooperation, Abschreckung und Entspannung.
Damit kommen die Lehren aus dem Ost-West-Konflikt wieder zur Geltung. Die neokonservative Legende hingegen hatte erträumt, dass die Sowjetunion allein aufgrund der militärischen Stärke der Vereinigten Staaten zusammengebrochen wäre. Mit dem schurkischen Feind spricht man nicht, man setzt ihn unter Druck, bis der ersehnte Regimewechsel Wirklichkeit und alles gut wird - das war die (reichlich naive) Denkweise der "Neos", die lange die Außenpolitik Washingtons dominierten.
Mit dieser Neudefinition der amerikanischen Außenpolitik geht die dringende Aufforderung einher, sich wieder um den Nahostkonflikt zu kümmern, anstatt Nahostpolitik auf die unbedingte Unterstützung der Politik Israels zu beschränken - oder, was der heutigen Realität näherkommt, nur passiv auf die unverkennbare Ratlosigkeit in Jerusalem zu reagieren. Die US-Interessen, so die Kommission, verlangen gebieterisch die Beilegung des Konflikts. Das erfordert Engagement, notfalls auch Forderungen an den israelischen Freund und Partner.
Dass der Bericht Einfluss haben wird, daran ist nicht zu zweifeln. Mehrere Kommissionsmitglieder haben gute Beziehungen zur Außenministerin Condoleezza Rice und ihrem Stellvertreter Robert Zoellick. Der neue Verteidigungsminister Gates war ebenfalls lange ihr Mitglied und teilt offensichtlich ihre "Philosophie". Der Präsident wird sein Gesicht wahren wollen, kann aber auch den engen Freund und Berater seines Vaters, James Baker, nicht desavouieren.
Auf der anderen Seite hat man in den letzten Jahren eine Art "Abschiedssymphonie" der neokonservativen Kämpfer in der Administration gesehen: Paul Wolfowitz, der Architekt des Irakkriegs, ist schon lange in die Weltbank abgerückt. Donald Rumsfeld geht zum Jahresende in Pension. Douglas Feith, der Dritte im Pentagon-Bunde, arbeitet bereits in einem Think-Tank. Und der neokonservative Platzhalter im State Department, UNO-Botschafter John Bolton, ist auch nur noch wenige Wochen im Amt.
Von der neokonservativen "Achse der Torheit" ist als letzte Achsenmacht nur noch Vizepräsident Dick Cheney übriggeblieben, der unverdrossen und frei von jeder Selbstkritik in seinem Flügel des Weißen Hauses residiert. Mit den Abgängen seiner Parteigänger und Verbündeten aus ihren einflussreichen Positionen dürfte jedoch auch sein Einfluss geschrumpft sein. Ist Präsident Bush in der Endphase seiner Präsidentschaft zur "lahmen Ente" degradiert, so könnte Cheney einem garen Suppenhuhn gleichen, das zwar noch dampft, aber nicht mehr picken kann.
Damit vollzieht sich ein für die amerikanische Politik äußerst wichtiger Wandel: die Wiederkehr der republikanischen Mitte, die unter dem Triumph des Neokonservatismus lange stumm und machtlos geblieben war. Die republikanischen Mitglieder der Baker-Hamilton-Kommission gehören ihr an; James Baker ist ihr Flaggschiff. Auch im Senat sind die Stimmen um Chuck Hagel oder Richard Lugar vernehmlicher und häufiger zu hören.
Die Götterdämmerung des Neokonservatismus könnte anstehen. Schon zeigt sich in der Nato, dass Lieblingsprojekte des Weißen Hauses unter europäischem Widerstand zusammengebrochen zu sein scheinen - dazu gehört etwa die die Öffnung nach Asien. Aus Genf, wo die Überprüfungskonferenz des Biowaffenübereinkommens stattfindet, hört man Neuigkeiten über eine verblüffend konstruktive amerikanische Haltung.
Der Multilateralismus amerikanischer Außenpolitik kehrt wieder, den die "Wilsonianer in Armeestiefeln" zertreten zu haben schienen, wie der französische Wissenschaftler Pierre Hassner die Neocons genannt hat. Für all diese Entwicklungen ist der Baker-Bericht symptomatisch. Er enthält deshalb gute Kunde für die Welt. Ob es freilich möglich sein wird, das weltpolitische Porzellan, das die Bushianer in sechs Jahren zerschlagen haben, wieder zu kitten, bleibt trotz des positiven Trends leider fraglich. HARALD MÜLLER
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