Debatte: Kleine Kredite, großer Mythos
Mikrodarlehen an Frauen gelten als Wundermittel der Entwicklungshilfe. Dass aus der guten Idee ein neoliberales Instrument geworden ist, wird geflissentlich übersehen.
D ie Grameen Bank des Nobelpreisträgers Yunus tut es, die Weltbank tut es, der Sparkassenverband und viele Entwicklungsorganisationen tun es ebenfalls: Sie vergeben Kleinkredite an Frauen und meinen, damit sei ein Instrument gefunden, mit dem diese sich selbst aus Armut und Unterdrückung befreien können. Erstaunlich ist, dass man dabei seit Jahren die Stimmen und Studien überhört, die sich kritisch mit den Wirkungen der Darlehen auseinandersetzen und vor dem Glauben an universelle Patentlösungen warnen.
In der allgemeinen Euphorie wird vor allem übersehen, dass Mikrofinanzierung in den letzten 20 Jahren von einem wohlgemeinten Instrument der Frauenförderung zu einem neoliberalen Vehikel der Integration von Frauen in die modernen Finanzdienstleistungs- und Marktsysteme geworden ist.
Und das ging so: Der Professor aus Bangladesch hatte die wunderbare Idee, dass die Bank zu den armen Frauen in die Dörfer gehen muss, wenn die Frauen nicht zur Bank gehen können. Anstelle der sonst üblichen Sicherheiten für die Bank machte ihre hohe Rückzahlungsmoral die Frauen kreditwürdig. Diese entsteht vor allem durch Gruppendruck, denn die Kredite samt dem stattlichen Zinssatz von 25 Prozent gehen an Frauengruppen. Diese Gruppen verpflichten sich außerdem, nicht nur Verantwortung als Markt-, sondern auch als Entwicklungsakteurinnen zu übernehmen, etwa Bäume zu pflanzen, Familienplanung zu betreiben, die Kinder zur Schule zu schicken.
Der Knackpunkt aber ist die zwillinghafte Kopplung der Mikrofinanzierung an das Konzept der wirtschaftlichen Eigeninitiative, im Entwicklungsjargon "einkommenschaffende Tätigkeit" genannt. Beide Mikroansätze sollen eine Makrowirkung haben, nämlich es den Frauen als Kleinunternehmerinnen oder Selbstbeschäftigten ermöglichen, sich am eigenen Schopf aus der Armut zu ziehen.
Immer auf der Suche nach handlichen Mehrzwecklösungen, kopierte die gesamte Entwicklungsindustrie das Grameen-Modell. Frauenorganisationen begrüßten, dass Frauen zu produktiven Ressourcen kamen und sich den Fängen lokaler Geldverleiher entziehen konnten. Die Weltbank, die Frauen schon immer für eine "untergenutzte Ressource" gehalten hatte, machte aus den kleinen Dorfprojekten milliardenschwere Entwicklungsprogramme.
Mit der Behauptung, es gäbe ein "Menschenrecht auf Kredit", verknüpfte Yunus das Menschenrechtsparadigma der UN mit dem neoliberalen Mainstream, die Mikro- mit den Makrofinanzmärkten. Er forderte große Banken und Fondsgesellschaften auf, in das kommerzielle Geschäft mit den Kleinkrediten einzusteigen. So wurden Milliarden kleiner Kredite für die Banken - darunter immer mehr private - zu einem großen Geschäft. Das Wallstreet Journal jubelte, sie seien ein Symbol dafür, "dass der Kapitalismus ebenso für die Armen funktionieren kann wie für die Reichen". Dagegen verdrängten die Kleinkreditprogramme überbrachte informelle Formen des kollektiven Sparens und häufig auf Solidarität beruhende informelle Finanztransaktionen zwischen den Frauen - von den Tontine in Westafrika, den "merry-go-round" in Ostafrika bis zu den dörflichen Spargenossenschaften in Südasien.
Regierungen sprangen auf Mikrofinanzierung als Entlastungsprogramm an, um flugs Verantwortung für soziale Grundversorgung an die hoch motivierten Frauen und ihre "Eigeninitiative" abgeben zu können. Sollen die Kredite den Frauen doch helfen, die Gebühren für die Schule und die Gesundheitsversorgung zu übernehmen.
In Indien zum Beispiel sind Mikrokreditprogramme der neue flächendeckende Prototyp von "Selbsthilfe". Früher stellten Frauen in den Selbsthilfegruppen die politischen Überlebens- und Geschlechterfragen: Wem gehört das Land, das Wasser, das Saatgut, der Körper der Frauen, ihre Arbeit, die Macht im Dorf? Jetzt dreht sich alles ums Geld: Wer bekommt einen Kredit, für welche "einkommenschaffende Tätigkeit" wird er genutzt, wie wird er zurückgezahlt? Der Kredit entpolitisiert die existenzielle Frage des Überlebens und ökonomisiert sie in marktangepasster Form.
Längst satteln findige Unternehmen ihre Verwertungsinteressen auf die existenziellen Bedürfnisse der Frauen drauf. Sie bieten den "Selbsthilfe"-Frauen ein Franchisesystem an: Mit Hilfe des Kredits sollen sie im Dorf einen Kiosk eröffnen und Industrieprodukte verkaufen. Eine Selbsthilfegruppe im südindischen Tamil Nadu machte einen "Minisupermarkt" am Rande einer Kleinstadt auf, mit "modernen" Produkten, sauber verpackt und verschweißt, darunter Zahnpasta von Henkel, gesundheitsschädliche Bleichcreme, um die Haut aufzuhellen, und Mineralwasser von Coca-Cola, wofür der Konzern den Dörfern unweit vom Supermarkt das Grundwasser abpumpt.
Dagegen nehmen die Jungunternehmerinnen die Gewürze, Öle und Heilmittel, die die Dorffrauen nebenan herstellen, nicht ins Sortiment auf, weil sie nicht "richtig" verpackt sind. So führt die Selbsthilfegruppe den freien Wettbewerb ein: Konzernwaren gegen die Produkte der Kleinbäuerinnen und Straßenhändlerinnen.
Gewiss ist der Supermarkt ein Erfolgsbeispiel für das "ökonomische Empowerment" der Frauen. Zugleich fungiert er als Vorhut neoliberaler Ökonomie. Die unternehmungsfreudigen Frauen erschließen den Konzernen neue Märkte und übernehmen Umsatzrisiken. Dabei drängen sie die dörfliche Ökonomie ins Abseits und werten die Frauenarbeit als nicht marktfähig ab. Die Interessenunterschiede zwischen den Frauen wachsen.
Inzwischen belegen unzählige Forschungen eine in etwa dreigeteilte Wirkung: Ein Drittel der Kreditnehmerinnen schafft den Aufstieg, ein Drittel kann die ein oder andere Not lindern, aber krebst in einem ständigen Auf und Ab um die Armutsgrenze herum, ein Drittel gerät in eine neue Verschuldungsspirale und bleibt arm. Je ärmer die Frauen, desto weniger verbessert der Kleinkredit ihre wirtschaftliche Situation. Die Allerärmsten werden nicht erreicht.
Es geht nicht darum, positive Wirkungen von Mikrokrediten zum Beispiel auf das Selbstwertgefühl von Frauen, ihr öffentliches Auftreten und ihr Ansehen im Dorf zu bestreiten, sondern den Mythos zu knacken, dass ein Mikroinstrument Individuen in die Lage versetzen kann, die Armut nachhaltig zu beseitigen. Kleinkredite integrieren die Frauen in die Märkte und überlassen sie dem freien Spiel der dortigen Kräfte - mit unterschiedlichem Erfolg. Gewiss helfen sie einigen, ein Geldeinkommen zu erwirtschaften. Doch sie sind überwiegend zu einem Mittel neoliberalen Armutsmanagement verkommen. Die makroökonomischen Mechanismen, die Armut erzeugen, lassen sie unberührt. Und sie politisieren die Armen nicht so weit, dass sie gemeinsam für ihre Rechte streiten, im Gegenteil: Sie ermuntern sie, auf den Märkten gegeneinander zu konkurrieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien