Debatte: Die Ruhe vor dem Crash
Dieser Börsenboom ist anders: Erstmals investieren Schwellenländer wie China bei uns. Das bringt die deutschen Steuer- und Rentenreformen ziemlich durcheinander
D er Börsenboom hinterlässt eine Spur des Staunens. Der deutsche Aktienindex DAX umkreist den Rekord von 8.000 Punkten - und auch der amerikanische Dow Jones hat in der vergangenen Woche wieder eine Höchstmarke geknackt.
Ulrike Herrmann ist wirtschaftspolitische Korrespondentin der taz
Mit dieser Kursexplosion hätte zu Silvester noch niemand gerechnet. Damals stand der DAX bei knapp 6.600 Punkten. Und sämtliche Experten rieten zur Vorsicht. Sie erwarteten nur einen minimalen Kursanstieg auf 6.700 Punkte, wie eine Umfrage des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) ergab.
Offensichtlich ist der Aktienmarkt nicht prognostizierbar. Das zeigen auch die Anekdoten, wer alles erfolgreich spekuliert. Das Playboy-Model Deanna Brooks etwa vermehrte ihr Aktienvermögen im vergangenen Jahr um satte 43,43 Prozent - und schlug damit alle Aktien-Indices deutlich. Dabei interessierte sich die Brünette gar nicht für Finanzwelt, aber der Playboy war auf die medienwirksame Idee gekommen, einen Börsenwettstreit unter seinen Playmates auszurichten. Besonders gewinnträchtig hat Brooks bei einem Gold-Konzern investiert. Ihre Begründung: "What girl doesnt like a little bling?"
Die Börse ist ein irrationales Geschäft. Seit dem letzten Crash 2001 ahnen das auch die Kleinanleger, die lieber auf Staatspapiere vertrauen. Nur noch 10,3 Millionen Deutsche besitzen Aktien oder Fonds-Anteile. Vielleicht erklärt diese Abstinenz die große Gelassenheit, mit der die Öffentlichkeit die Hysterie an den Börsen ignoriert. Das Thema "Geldschwemme" wird weitgehend auf die Finanzseiten verbannt, wenn nicht gerade ein neuer spektakulärer DAX-Rekord zu melden ist. Dabei ist die Aktien-Hausse auch für die allgemeine Politik interessant, widerlegt sie doch vermeintliche Gewissheiten, die die unsozialen Reformen der Kanzler Schröder und Merkel motivierten. Mindestens drei Korrekturen der deutschen Selbstwahrnehmung sind durch den Börsen-Boom angebracht.
1. Ein beliebtes Argument für den Sozialabbau war die "Kapitalflucht". Die Anleger würden alle ins Ausland abziehen, wenn nicht in Deutschland die Lohnkosten und Steuern drastisch sinken. Doch statt zu fliehen, stürzen die ausländischen Investoren herbei, um deutsche Aktien, mittelständische Firmen und Immobilien zu ergattern. Den weltweiten Wettbewerb um das Kapital gibt es nicht. Es ist anders herum: Das Kapital konkurriert um die raren Anlagemöglichkeiten. Deswegen steigen ja die Aktienkurse so rasch.
Genüsslich berichten die Medien, wie jetzt auch Russen, Chinesen und Ölscheichs die deutschen Firmen entdecken. Ihr Motiv: Sie suchen stabile Finanzplätze mit geordnetem Rechtssystem. Ihr Problem: Vertrauensschutz für Investoren können nur wenige Weltregionen bieten. Die EU gehört zu diesen sicheren Oasen, weswegen sich der globale Reichtum nun an den europäischen Börsen staut.
Da könnte sich die deutsche Politik ruhig mehr Selbstbewusstsein leisten. Bisher fühlte sie sich durch die "Globalisierung" entmachtet, die angeblich die Herrschaft der Finanzmärkte symbolisiert. Nun zeigt sich, wie die Machtverhältnisse wirklich sind: Die Finanzkapitalisten sind auf die Politik angewiesen. Nur sie kann den komplexen sozialen Prozess organisieren, der nötig ist, um Investitionen zu schützen. Ein paar Punkte aus der langen Liste: Die Justiz muss unabhängig sein; Behörden und Polizei dürfen nicht korrupt sein; die Kriminalitätsrate sollte niedrig liegen.
Diese Rechtssicherheit ist allerdings nicht umsonst zu haben. Der Staat muss massiv in Bildung, Chancengleichheit und soziale Absicherung investieren, damit es nicht zu viele Benachteiligte gibt, die sich für fremdes Eigentum interessieren. Sozialer Friede ist ein kostbares und kostspieliges Wirtschaftsgut - dafür können Unternehmen und Fonds ruhig zahlen. Niedrigsteuern für die Reichen sind da genau der falsche Weg.
2. Auch das Konzept der deutschen Rentenreformen gerät durcheinander, seitdem ausgerechnet die Schwellenländer die Finanzmärkte aufheizen. Ein zentrales Argument für die Privatisierung der Altersvorsorge lautete immer: Wenn Deutschland vergreist, dann soll möglichst die ganze Welt dafür zahlen. Vor allem von den rasanten Wachstumsraten in China sollten die deutschen Arbeitnehmer profitieren, indem sie sich via Privatvorsorge indirekt an internationalen Aktienfonds beteiligen.
An diesem Szenario ist immerhin richtig, dass China boomt. Im zweiten Quartal legte die Wirtschaft um 11,9 Prozent zu, wie das Nationale Büro für Statistik in Peking jetzt meldete. Zu Jahresende könnte China nach den USA und Japan zur drittgrößten Wirtschaftsnation der Welt aufsteigen - und damit Deutschland von diesem Rang verdrängen.
Was jedoch die heiteren Hoffnungen auf den Geldsegen im Alter trübt: Selbst die gigantischen Wachstumsraten in China reichen nicht mehr aus, um das Kapital zu absorbieren, dass sich dort sammelt. Deswegen drängen die Chinesen nach Europa, um hier einzukaufen. Und die chinesischen Börsen selbst sind derart überhitzt, dass es ein Wunder wäre, wenn sie nicht irgendwann kollabieren.
Das deutsche Demografie-Problem lässt sich also nicht outsourcen. Letztlich gibt es keine Alternative zu einem staatlichen Rentensystem, das versucht, die Älteren möglichst gerecht am heimischen Bruttosozialprodukt zu beteiligen.
3. Mitten in einer Geldschwemme ist es wenig sinnvoll, noch mehr Geld in den Teich zu werfen. Doch unbeirrt will die Bundesregierung ihre Bürger weiter zur Kapitalbildung animieren, obwohl das Kapital kaum noch Investitionsmöglichkeiten findet. Das neueste Lieblingsprojekt heißt "Investivlohn". Die Modelle von SPD und Union sind noch nicht kompatibel, aber irgendwie sollen die Beschäftigten an ihren Unternehmen beteiligt werden. Da die Firmen die Anteilsscheine nicht freiwillig verschenken dürften, läuft es letztlich auf eine weitere Art des Vorsorgesparens durch die Arbeitnehmer hinaus. Wie bei der privaten Altersvorsorge sollen sie ihren Lohn gegen überteuerte Kapitalanlagen tauschen. Ein schlechtes Geschäft. Wieder zeigt sich, dass sich Gerechtigkeit nicht über den Markt organisieren lässt.
Auf den ersten Blick könnte der erstaunliche Börsenboom wie eine kapitalistische Erfolgsgeschichte wirken - doch tatsächlich illustrieren die rasanten Kursgewinne, wie machtlos die Finanzmärkte sind. Sie können nicht für den sozialen Frieden sorgen, den sie doch brauchen, um sicher investieren zu können. Stattdessen verschärfen sie die Ungleichheit, sobald ihnen die soziale Vorsorge überlassen wird. Ausgerechnet der Börsenboom führt vor, wie nötig der Staat ist. Russen, Chinesen und Ölscheichs haben das bereits begriffen, deswegen streben sie ja nach Europa. Die Europäer selbst werden es wohl erst glauben, wenn sich der nächste Börsen-Crash ereignet hat.
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