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DebatteDie Börse steht nackt da

Kommentar von Stephan Schulmeister

Nicht nur die Aktienkurse trudeln - die neoliberale Theorie wird gerade widerlegt. Die Finanzmärkte gelten als die freiesten Märkte und funktionieren überhaupt nicht

B ei der aktuellen Finanzkrise lautet die gängige Erklärung, Banken und Hedgefonds hätten sich übermäßig an US-Hypothekarkrediten beteiligt. Viele der Schuldner seien finanzschwach und hätten in jüngster Zeit ihre Kredite nicht mehr bedienen können.

Bild: wifo

Stephan Schulmeister, 59,

arbeitet am Österreichischen

Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) über Spekulation auf

Aktien-, Devisen- und Rohstoffmärkten.

Warum aber sollten in wenigen Wochen Eigenheimbesitzer in den USA massenweise insolvent werden? Tatsächlich sind die Immobilienpreise noch nicht nennenswert gesunken - sie steigen nur nicht mehr so stark. Auch Zinsniveau und Wachstumstempo haben sich nicht verändert. Hauptursache der Vertrauenskrise an den Börsen ist eher der "Des Kaisers neue Kleider"-Effekt" (im Folgenden KNK-Effekt): Man entdeckt, dass hinter einem "Financial Asset" weniger realer Wert steckt, als das Nominale verheißt.

Dieser KNK-Effekt erfasste auch die Aktienkurse. So ist etwa der DAX seit 2003 um mehr als 250 Prozent gestiegen, angesichts der mäßigen Wirtschaftsentwicklung ein leicht grotesker Wertgewinn. Je länger eine solche Hausse andauert, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie in eine Baisse kippt. (Die Kurseinbrüche vom März und Juni 2007 waren Vorboten.) Professionelle Investoren warten nur auf einen Auslöser. Wer rechtzeitig auf einen Abwärtstrend spekuliert, macht hohe Gewinne - und verstärkt damit noch den Sog nach unten. So wurden zwischen 2000 und 2003 in Deutschland fast die gesamten Kursgewinne der 1990er-Jahre eliminiert.

Die Hypothekenkrise ist also nur der Auslöser des KNK-Effekts, der inzwischen nicht nur die Aktienbörsen erreicht hat. Gleichzeitig ist die Bonität der US-Auslandsschulden insgesamt in Zweifel geraten. Das zeigt sich bei den chinesischen und russischen Staatsfonds, die lieber nicht mehr in Dollaranleihen investieren, sondern stattdessen versuchen, sich direkt an US-amerikanischen und europäischen Unternehmen zu beteiligen. Denn die Investoren fürchten, dass der Dollar an Wert verliert - was durch Zinssenkungen in den USA verstärkt wird. Erst gestern hat die US-Notenbank den Diskontsatz überraschend um einen halben Prozentpunkt auf 5,75 Prozent herabgesetzt. Die Nettoauslandsfinanzschuld der USA beträgt fast 7 Billionen Dollar - und sie wächst täglich um mehr als 2 Milliarden Dollar -, da sind mittelfristige Dollar-Abwertungen wahrscheinlicher als Aufwertungen. Überdies leisten die USA keine Zinsen für ihre Finanzschuld: Seit 1984 übersteigt die Kreditaufnahme den Zinsendienst für die Auslandsschulden in jedem Jahr, gegenwärtig etwa im Verhältnis von 4:1.

Diese Entwicklung hängt direkt mit der Beteiligung deutscher Banken an faulen Hypothekarkrediten zusammen: Die USA haben ein chronisches Defizit in ihrer Leistungsbilanz - sie importieren weit mehr, als sie exportieren. Doch da der Dollar die Leitwährung darstellt, können die USA ihr Defizit in eigener Währung finanzieren. Sie bezahlen ihre Einfuhren einfach in Dollars, die sie ad libidum produzieren können. Folge: Jene Länder, die besonders hohe Überschüsse mit den USA erzielen, sitzen auf besonders hohen Dollarforderungen - so auch der Exportweltmeister Deutschland.

Konkret: Wenn etwa Porsche in die USA exportiert, dann erhält die Firma dafür Dollars, die sie bei ihrer Hausbank in Euros umtauscht. Aber irgendwer muss die Dollars halten. Das sind zum Teil Bundesbank und EZB, zum Teil die Geschäftsbanken. Diese müssen die Dollars möglichst profitabel anlegen. Da Deutschland besonders stark steigende Exportüberschüsse erzielte, hat auch der Anlagebedarf enorm zugenommen. Entsprechend dynamisch entwickelten sich deutsche Banken und Hedgefonds. So hat sich die Deutsche Bank in nur wenigen Jahren von einer lediglich der Realwirtschaft dienenden Bank zu einem Global Player gewandelt: Ihre Gewinne stammen nunmehr in erster Linie aus dem "Trading", also dem Eingehen kurz- oder mittelfristiger Spekulationspositionen.

Was nun sind die systemischen Ursachen für diese "manisch-depressiven" Schwankungen, die alle fundamentalen Preise der Weltwirtschaft erfasst haben - ob Aktienkurse, Wechselkurse, Zinssätze oder Rohstoffpreise?

- Erstens: Die Deregulierung der Finanzmärkte in den 70er und Finanzinnovationen der 80er-Jahre eröffneten immer mehr Gewinnchancen für kurzfristig-spekulative Transaktionen.

- Zweitens: Mit den kurzfristigen Spekulationen wurden die Aktien- und Wechselkurse sowie die Rohstoffpreise instabiler - doch genau diese zunehmenden Kursschwankungen erhöhten die Chancen auf profitable Spekulationen. Diese Wechselwirkung hat die Märkte weiter destabilisiert.

- Drittens: Technische Spekulationssysteme wie Charts oder gleitende Durchschnitte fanden immer weitere Verbreitung. Diese setzen auf Preistrends und verstärken so die Trends (Rückkoppelung).

- Viertens: Die Renditeansprüche der Unternehmen stiegen; Realinvestitionen wurden entsprechend reduziert und Finanzinvestitionen ausgeweitet. Wie aber sollen Renditen von 10 oder 20 Prozent realisiert werden, wenn die Wirtschaft kaum um 2 Prozent wächst?

- Fünftens: Immer mehr Amateure wurden von den Verlockungen des schnellen Geldes erfasst. Die Banken bemühten sich, dieses Interesse durch Einführungs- und Fortbildungsseminare in der Kunst des profitablen Trading zu fördern.

- Sechstens: All diese Entwicklungen ließen den Wert von Finanztransaktionen in Industrieländern auf mehr als das Hundertfache (!) des Bruttoinlandsprodukts anschwellen. Nirgendwo stiegen die Finanztransaktionen in den letzten zehn Jahren rascher als in Deutschland. Allein an der Frankfurter Derivatbörse (Xetra) wird das deutsche Bruttoinlandsprodukt etwa 50-mal umgeschlagen.

Diese Entwicklungen werden von Mainstream-Ökonomen ignoriert. Blättert man etwa die Gutachten des Sachverständigenrats der letzten Jahre durch, so findet man nicht einmal den Versuch, das Verhalten auf den Finanzmärkten zu analysieren und ihre Auswirkungen auf Aktienkurse, Wechselkurse und Rohstoffpreise einzuschätzen.

Der ökonomische Mainstream kann die Realitäten des Finanzkapitalismus nicht wahrnehmen, weil die kognitive Dissonanz unerträglich wäre. Wenn die "freiesten" aller Märkte, die Finanzmärkte, systematisch falsche Preissignale setzen, dann kollabiert das gesamte Theoriegebäude. Man stelle sich vor: Alle gängigen Empfehlungen für die Wirtschaftspolitik - von der Senkung der Arbeitslosenunterstützung, der Rückführung der Staatsquote bis zur Förderung der kapitalgedeckten Altersvorsorge - sie alle hätten ihre wissenschaftliche Fundierung verloren! Da schaut man lieber weg und schreitet mit festem Expertentritt in der Sackgasse voran. An ihrem Ende könnte es krachen. Die Köpfe werden sich andere blutig schlagen, die Ökonomen sicher nicht. Lediglich der KNK-Effekt wird auch sie erfassen.

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