Debatte über Reformen: Alles braucht seine Zeit
Finanzminister Schäuble spricht über Vereinfachung der Steuerpolitik und Reformen in Deutschland. Doch moderne Gesellschaften würden nicht auf Knopfdruck funktionieren.
Es gibt sie noch, die Konservativen. Sogar in den Parteien, die sich selbst gern bürgerlich nennen. In einem Interview hat Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) nun allerlei Dinge über die Steuerpolitik gesagt. Der wichtigste Satz ist dabei fast untergegangen. "Moderne Gesellschaften funktionieren nicht auf Knopfdruck", sagte Schäuble. Deshalb könne es immer nur um "begrenzte Korrekturen" gehen, und selbst die erreiche man nur, "wenn man sich sehr behutsam auf den Weg macht".
Hier sprach der Minister nicht nur über Steuern, er sprach über Politik insgesamt. Es war eine Art Handlungsanweisung für die neue Regierung, und es war eine Bilanz der Reformdebatten im letzten Jahrzehnt - vielleicht sogar das Fazit eines ganzen Politikerlebens seit Schäubles Einzug in den Bundestag im Jahr 1972. Auch damals war Reform ein großes Wort, das alsbald großen Verdruss hinterließ.
Man täuscht sich, wenn man das Debakel der SPD und ihrer Agendapolitik nur mit politischen Inhalten erklärt oder der fehlerhaften Art ihrer Vermittlung. Es war die Veränderung selbst, die das Publikum irritierte - und den innigen Wunsch hinterließ, es solle möglichst alles so bleiben, wie es ist.
In einer merkwürdigen Verkehrung der politischen Richtungen hatte zuletzt vor allem Schwarz-Gelb an der Idee eines wie auch immer definierten Fortschritts festgehalten, während die Sozialdemokraten und erst recht die Linkspartei im Zeichen der Hartz-IV-Erfahrung zu Bewahrern wurden. Der Fortschrittsglauben der alten Arbeiterbewegung war ihnen längst abhandengekommen. Es schien nur noch darum zu gehen, den scheinbar unvermeidlichen Rückzug des Sozialstaats wenigstens zu verlangsamen.
Dabei galt es unter Historikern oder Soziologen eigentlich längst als ausgemacht, dass moderne Gesellschaften politisch kaum zu steuern sind. Denn Modernisierung bedeutet in erster Linie Steigerung von Komplexität. Weil immer komplexere Strukturen die Menschen überfordern, streben von Zeit zu Zeit Reformer nach Vereinfachung. Gerade weil in der Moderne alles mit allem zusammenhängt, werden die Dinge dadurch nur noch komplizierter.
Schäubles neues Metier, das Steuerrecht, ist dafür das beste Beispiel. Die Naivität, mit der Politiker wie Friedrich Merz oder Guido Westerwelle an die Möglichkeit einer durchgreifenden Vereinfachung glauben, ist allenfalls mit einem Mangel an historischer Bildung zu erklären. Bislang jedenfalls endeten alle Anläufe zur Steuervereinfachung damit, dass der Steuererklärung neue Spalten oder sogar ganze Anlagenblätter hinzugefügt werden mussten.
Noch schlimmer ist es im Gesundheitswesen. Die Kopfpauschale, die auf dem Papier so einfach klingt, wäre in der Praxis ein neues Bürokratiemonster. Um den geplanten Steuerausgleich zu organisieren, müssten Einkommen und Vermögen aller Beitragszahler durchleuchtet werden wie bislang nur bei Hartz-IV-Empfängern. Bei der Bürgerversicherung, dem Gegenmodell der SPD, ist es allerdings nicht viel besser. Da lässt der kluge Politiker doch lieber alles, wie es ist - solange er es halbwegs bezahlen kann.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Demokratie die konservativste Staatsform ist. Was nicht bedeutet, dass Autokraten die erfolgreicheren Reformer wären. Sie können Widerstände länger ignorieren, dafür scheitern ihre Reformen umso krachender. So ging es schon im 18. Jahrhundert dem österreichischen Reformkaiser Josef II., der die Vernunft gegen die Tradition in Stellung brachte - und der Abdankung nur knapp entging.
Schäubles Gesetz von der Reformresistenz moderner Gesellschaften hat alle Chancen, zum neuen Leitsatz des politischen Berlin aufzusteigen. Gerade auf der politischen Linken vernimmt man bereits Seufzer der Erleichterung. Beantworten müsste die große Koalition der Bewahrer allerdings die Frage, wozu Politik überhaupt noch da ist - wenn nicht zu einer wenn auch behutsamen Veränderung.
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