Debatte schwarz-gelbe Energiepolitik: Noch lange nicht am Ziel
Für Atomkraftgegner gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Denn das, was die schwarz-gelbe Regierung als Atomausstieg verkauft, ist eine Katastrophe.
N eulich auf Bergwandertour: Wir biegen um einen Felsen, erstmals sehen wir den Gipfel vor uns. Ein tolles Gefühl, auch wenn der Weg noch weit ist. Beim Blick zurück sehen wir, was wir schon alles geschafft haben. Das kann uns keiner mehr nehmen.
Aber dann kommen Zweifel auf: Ist das überhaupt schon der Gipfel, den wir da sehen? Oder geht es danach noch weiter? Dann fällt uns auf, dass der Weg jetzt eine ganze Zeit lang fast eben verläuft. Kurz vor dem – vermeintlichen – Gipfel aber ragt eine riesige Felswand in die Höhe. Haben wir uns zu früh gefreut? Oder sollten wir zufrieden sein, dass wir wenigstens so weit gekommen sind – und jetzt umkehren?
So weit die Analogie zum "Atomausstieg" der Bundesregierung. In Krümmel wird deshalb jetzt gefeiert, genauso sicherlich in Brunsbüttel und Esenshamm: Zu Recht, denn diese norddeutschen Pannenmeiler werden nie wieder ans Netz gehen. Das ist ein großartiger Erfolg aller Menschen, die sich – zum Teil seit Jahrzehnten – dafür eingesetzt haben, dass diese Atomkraftwerke stillgelegt werden. Noch etwas verhalten sieht man die Sache in Philippsburg: dort droht mit der "Kaltreserve" ein Hintertürchen, das die endgültige Stilllegung von Block 1 verzögert. Bei Biblis B ist es ähnlich. Doch Block A in Biblis ist auf jeden Fall erledigt. Auch das ist ein Grund zum Feiern.
JOCHEN STAY ist freier Autor und Aktivist in der Anti-Atom-Bewegung. Er lebt seit 1992 im Wendland und ist Sprecher der Anti-AKW-Initiative Ausgestrahlt.
Nichts zu lachen dagegen haben die Menschen rund um Brokdorf, Grohnde, Lingen, Grafenrheinfeld und Gundremmingen. Die dortigen AKWs werden noch mindestens zehn Jahre weiterlaufen – teilweise deutlich länger als mal unter Rot-Grün vereinbart. Am deutlichsten wird das Dilemma, in dem sich die Anti-AKW-Bewegung jetzt befindet, in Ohu an der Isar, in Neckarwestheim und auch in Philippsburg. Da werden die jeweils älteren Reaktorblöcke stillgelegt, die "jüngeren" sollen noch lange Jahre weiterstrahlen. Dort macht es also Sinn, gleichzeitig mit Sekt und Selters anzustoßen.
Ja, es gibt Gründe zu feiern
Ja, wir AtomkraftgegnerInnen haben diese Tage was zu feiern: nämlich, dass 7 bis 8 AKWs endgültig stillgelegt werden. Das war auch nach Fukushima keinesfalls garantiert, wie sich in anderen Ländern zeigt. Dieses Ziel haben wir nur erreicht, weil sich hierzulande Hunderttausende aktiv dafür eingesetzt haben. Und es ist eine Tatsache, dass Protestbewegungen ihre Erfolge viel zu wenig feiern. Mit dieser Tradition sollten wir brechen.
Aber es gibt die andere Seite: In Grafenrheinfeld haben sie es als Erste gemerkt. Zuerst herrschte verhaltene Freude darüber, dass das AKW jetzt ja vielleicht doch, wie im rot-grünen Plan avisiert, 2014 vom Netz gehen könnte. Aber dann plötzlich stellte sich die frustrierende Erkenntnis ein, dass mit der Übertragung von Strommengen-Kontingenten aus Mülheim-Kärlich und Krümmel neben allen anderen neueren AKWs auch der fränkische Reaktor bis 2021 weiterlaufen wird. Und womöglich noch länger?
Kein Ausstieg zu diesem Datum
Denn das, was die Regierung als "Atomausstieg bis 2022" verkauft, ist eine Katastrophe. Und zwar gar nicht nur und nicht einmal in erster Linie, weil es zehn bis elf Jahre weiter Restrisiko und Atommüllproduktion in den 9 verbleibenden AKWs bedeutet, sondern weil mit der Beibehaltung der Reststrommengen-Regelung der Ausstieg 2022 nicht stattfinden wird.
Dass die AKW-Betreiber mit Stromkontingenten virtuos jonglieren können, haben sie in den letzten Jahren eindrucksvoll bewiesen und so verhindert, dass eine ganze Reihe von Meilern zum ursprünglich angekündigten Zeitpunkt stillgelegt wurden.
Deshalb wird es jetzt keine stufenweise Stilllegung der verbliebenen Reaktoren, verteilt über die nächsten zehn Jahre, geben. Vielmehr werden alle 9 bei geschicktem Strommengen-Management noch bis 2021 am Netz sein. Industrie und Stromkonzerne werden uns dann erzählen, dass es unmöglich ist, innerhalb weniger Monate 9 AKWs gleichzeitig vom Netz zu nehmen, und mit Blackouts und steigenden Strompreisen drohen.
Dann beginnt das ganze Spiel noch einmal von vorne – und je nachdem, wie dann die politischen Mehrheiten, die Stimmung in der Bevölkerung, die Wirtschaftslage und der Abstand zum letzten Super-GAU sein werden, wird es Laufzeitverlängerungen geben.
Ja, die Union und selbst die SPD sind zu einer erneuten Laufzeitverlängerung in zehn Jahren fähig. Zehn Jahre können in der Politik ein ganzes Zeitalter sein. Oder erinnert sich noch jemand daran, was vor zehn Jahren in der Gesundheitspolitik diskutiert und beschlossen wurde? 2021 wird es nicht mehr relevant sein, was irgendeine Kanzlerin ein Jahrzehnt zuvor kurz nach der japanischen Reaktorkatastrophe gesagt hat. Schon einmal, mit dem rot-grünen Atomkonsens von 2001, versuchte alle Welt - bis hin zur taz - uns Atomkraftgegnern einzureden, wir hätten gewonnen, sollten uns freuen und zur Ruhe setzen, denn jetzt hatten ja sogar die Stromkonzerne dem Ausstieg zugestimmt, er sei also unumkehrbar. Wie die Geschichte ausging, ist bekannt: Zehn Jahre lang war das rot-grüne Atomgesetz in Kraft - stillgelegt wurden in dieser Zeit gerade einmal die 2 kleinsten AKWs, die 17 großen liefen weiter. Und am Ende stand die Laufzeitverlängerung.
Schon einmal zu früh gefreut
Jetzt heißt es wieder: "Freut euch! Der Ausstieg ist da! Jetzt hat sogar die CDU zugestimmt, er ist also unumkehrbar!" Warum, frage ich mich, organisiert die Kanzlerin diesen angeblichen Ausstieg dann so, dass die nächste Laufzeitverlängerungs-Debatte schon programmiert ist?
2001 haben zu viele Menschen den Versprechungen geglaubt und sich nicht länger aktiv gegen Atomkraft engagiert. So entstand der gesellschaftliche Resonanzraum für die Laufzeitverlängerungen des letzten Herbstes. Man kann nur hoffen, dass es diesmal anders läuft.
Was mich von den meisten JournalistInnen unterscheidet: Ich glaube der Kanzlerin nicht, was sie sagt. Sondern richte mich danach, was sie tut: Sie legt 7 bis 8 AKWs still, weil wir sie dazu gezwungen haben. Großartig! Und sie sorgt geschickt für den Weiterbetrieb der anderen 9 Reaktoren, indem sie das Etikett "Ausstieg" draufklebt. Es gibt keinen Grund, ihr dies durchgehen zu lassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“