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Debatte ZeitungssterbenEin Fels im Meer der Trivialität

Kommentar von Georg Seeßlen

Die bürgerliche Zeitung war immer mehr als ein Medium der Information. In ihren Überlebenskämpfen gibt sie nun preis, wozu sie geschaffen wurde.

D er Fall der Frankfurter Rundschau macht es noch einmal besonders augenfällig: Die bürgerliche Zeitung im Allgemeinen, und diejenige, die eine dezidierte, gar linke Position vertritt, ist ein verschwindendes Kulturgut. Von den vielen Begründungen, die es dafür gibt, ist wahrscheinlich jene, es gebe mittlerweile so viele andere Medien der Information, am wenigsten stichhaltig.

Eine bürgerliche Zeitung war aber immer viel mehr als ein Medium der Information. Sie war ein magisches Instrument der Selbstvergewisserung, eine tägliche Station in der Geschichte von Aufklärung und Gegen-Aufklärung, ein Ritualinstrument zur Konstitution von Alltag, Geschlecht und Sitte, ein ästhetisches Objekt zur Repräsentation der Welt. Und dann bestand sie auch noch aus Texten. Eine bürgerliche Zeitung war das Instrument zur Vertextlichung der Welt.

Die Zeitung in ihrer Glanzzeit war das schnelle Medium, und alle Bilder, von den eiligen Zeitungsjungen über die wahrhaft „rasenden Reporter“ bis zur imponierenden Rotationsmaschine, sprachen von der Dynamik nicht nur des Mediums und seiner Hersteller, sondern auch der seiner Adressaten. Die Zeitung war das Medium des Fortschritts.

Bild: privat
Georg Seeßlen

ist freier Publizist und Kinoexperte. 2012 erschien von ihm "Wir Untote! Über Posthumane, Zombies, Botox-Monster und andere Über- und Unterlebensformen in Life Science & Pulp Fiction" (mit Markus Metz, 26,90 Euro).

Die bürgerliche Zeitung, die sich in den USA etwa erst als letzte der drei großen Zeitungstypen herausbildete – Boulevardzeitung, Lokalblatt, überregionale und eben „bürgerliche“, seriöse und kultivierte Zeitung – gab vor, diesen Fortschritt und seine Geschwindigkeit regulieren zu können. Die Boulevardzeitung ihrerseits gab sich ihrem Rausch hin (sie versucht es gelegentlich noch heute, auch wenn das meistens bedeutet, dass es mit irgendetwas rasant abwärts geht), die Lokalzeitung setzte ein gemächlicheres Tempo für eine überschaubare Welt dagegen.

Bitte nicht mehr so gebüldet

Radio und Fernsehen konnten zunächst die Vormacht der Zeitung nur bedingt in Frage zu stellen. Man traute ihnen zwar die Dynamik, nicht aber so sehr die Kontrolle zu. Das Bedürfnis nach der Vertextlichung der Welt in all ihrer Geschwindigkeit blieb gegenüber den akustischen und visuellen Nachrichten durchaus vorhanden, zumal diese neuen Medien keine explizit „bürgerliche“ Abteilung für Nachrichten, Kommentare und Kultur ausbilden konnten. Die bürgerliche Zeitung, wenngleich in gebremster Machtfülle, war immer noch der Fels in der Brandung des Meeres der Unübersichtlichkeit, der Geschwindigkeit und der Trivialität.

Die bürgerliche Zeitung als Instrument der Verteidigung der bürgerlichen Kultur konnte nur scheitern, weil sie blind gegenüber der Gefährdung und Auflösung dieser Kultur war. Sie scheiterte aber vielleicht noch mehr an ihren Anpassungsbemühungen. Ein wenig mehr Bilder, und dann noch mehr Bilder. Kürzere Texte, und bitte nicht mehr so gebüldet. Boulevardisierung. Und vor allem: alles in die Mitte.

Der politische Distinktionsgewinn wurde nach und nach so bescheiden wie die durch die Zeitung beförderte Fähigkeit der kritischen Selbstvergewisserung. Die Dynamik überrannte den Text; eine bürgerliche Zeitung nimmt die chaotische Welt nicht mehr in ihrer Ordnung auf, sie läuft der chaotischen Welt und ihren Fragmentierungen hinterher.

In ihrer politischen Ökonomie kann sich die bürgerliche Zeitung heute keine dezidierte Position erlauben, doch wenn in allen mehr oder weniger dasselbe steht, oft von denselben Autoren verfasst, wenn man sich in Layout, Themenwahl und Textstil ängstlich anpasst, als wäre jeder Fehlversuch schlimmer als der Verlust von Neugierde und Originalität, dann verliert die bürgerliche Zeitung das, wozu sie für eine damals mehr oder weniger fortschrittliche Klasse und ihre Kultur geschaffen wurde: das Selbstbewusstsein.

Ein Instrument der Macht

Die bürgerliche Zeitung war das Medium, in dem das prekäre Bewusstsein der Klasse zum Selbstbewusstsein des Einzelnen wurde. Es ist leicht, jetzt, wo sie untergeht, der bürgerlichen Zeitung nachzutrauern, als hätten wir sie immer furchtbar lieb gehabt. Das haben wir nicht. Denn die bürgerliche Zeitung war immer auch ein Instrument der Macht. Sie beförderte, selbst in ihren netteren Exemplaren, immer auch Arroganz, Eitelkeit und Bosheit dieser Klasse. Die alten Tanten konnten sehr bösartig sein.

Wenn nun die bürgerlichen Zeitungen untergehen, dann nicht allein, weil ihnen die Leser verloren gehen, die sich Information und möglicherweise auch Ordnungen, Fortschritt, Selbstbewusstsein, Alltagsritual woanders holen, sondern auch, weil die Macht ihrer nicht mehr bedarf. Die ökonomische Macht (die rücksichtsloseste von allen) wandte sich als erste von ihnen ab, es folgte die politische (wozu die bürgerliche Zeitung, wenn in einer TV-Talkshow Politik und Öffentlichkeit geschmeidiger verbunden werden können), schließlich die kulturelle (die mit ein wenig Nostalgie am Salon der alten Tanten verweilte).

Die postbürgerliche Gesellschaft mag sich bürgerliche Zeitungen einfach nicht mehr leisten. Sie halten die neue Art von Fortschritt, der nicht ohne kulturellen Rückbau zu haben ist, nur auf; nennenswerter Widerstand ist aber auch nicht von ihnen zu erwarten. Daher sind sie weder für die Protagonisten noch für die Kritiker von Neoliberalismus und Postdemokratie von größerem Interesse. Sie bedienen Nischen und werden zunehmend Medien der Nischenproduktion.

Aber ebendies wäre ja vielleicht nicht einmal das Schlechteste: ein amüsantes, aufregendes, qualitätsvolles und eigensinniges Nischenprodukt anzubieten, wenn es sein muss, mit der Unterstützung gesellschaftlicher Mittel. Wir leisten uns schließlich auch Theater und Opern, Schwimmbäder und Bibliotheken (noch!).

Kollektiver Selbstmord

Die bürgerliche Zeitung als Luxus von Aufklärung und Kritik in der Zeit der Anti-Aufklärung, als eine Kulturtechnik, die man nicht verschwinden lassen möchte, auch wenn sie auf dem Markt, der schon beinahe alles regeln soll, nicht mehr standhalten kann, wird vom Medium selbst zerstört. In ihren Überlebenskämpfen auf dem Markt gibt die bürgerliche Zeitung nach und nach preis, wozu sie geschaffen wurde und warum man sie möglicherweise immer noch, vielleicht sogar dringender denn je gebrauchen könnte. Wir sehen zu, wie die Zeitungen von dem Markt verschlungen werden, der sie hervorbrachte. Wir sehen aber auch dem kollektiven Selbstmord der verbliebenen Protagonisten eines Mediums zu.

Sagen wir es, wie es ist: Die bürgerliche Zeitung ist (noch) nicht schlecht genug, um im allgemeinen Medienmix aufgelöst zu werden, sie ist aber auch längst nicht mehr gut genug, um als kultiviertes Kommunikationsinstrument zu überleben. Was uns bleibt, ist die Rettung eines Forums für Kritik und Diskurs, das ein paar gute Eigenschaften hat, die kein anderes Medium bieten kann. Die Zeitung ist tot. Es lebe die Zeitung.

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8 Kommentare

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  • WD
    Weg damit!

    Bürgerliche Zeitungen sind immer staatstragend und nicht fähig tiefgreifende Kritik am System und seiner herrschenden Klasse zu äußern, sie gehören daher, wie so vieles, endlich auf den Scheiterhaufen der Geschichte.

  • B
    Bauer

    Eitelkeit, Arroganz, Bosheit... Der Autor hat richtig erkannt, worum es in vielen Tageszeitungen ging. Warum soll man so mit sich umgehen lassen in Zeiten, wo man ein Zeitungsabo noch nicht einmal mehr kündigt, sondern einfach den Tab seines Browsers schließt.

    Es ist die Lüge und die Heuchelei, mit der sich Tageszeitungen in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen eine Scheinrealität zusammenspinnen. Ich lese am Tag ca. anderthalb Stunden Nachrichten und Kommentare. Medien, die ihren Kommentarbereich zensieren bzw. erst gar keinen eröffnen, sind für mich in ihrer Glaubwürdigkeit mittlerweile von vornherein beschränkt. Nachrichten und dazugehörige Meinung werden immer mehr nicht mehr konsumiert, sondern in Online-Diskussionen auf Gehalt geprüft. Mittlerweile lese ich die Kommentarbereiche eines Online-Artikels aufmerksamer als den Artikel selbst... Die Zeitung von morgen wird weniger etwas von "So ist das!!!" und mehr etwas von "Wie findet ihr das?" haben... Find ich gut, weil das Demokratie deutlicher abbildet!

  • J
    jan

    Der Zustand der kritischen Intelligenz in Deutschland ist deplorabelst. Als ob eine Aneinanderreihung von Wortklischees einen Gedanken ergäben.

     

    Wo bleibt der Luhmanpfeffer und die Tatsache, dass ein System (Presse) sich wehren muss, wenn es von einem anderen (Wirtschaft)attakiert wird?? Wo die Benennung des unsäglichen Missbrauchs des Wortes "liberal"? Schon Locke stelle die behauptete Harmonie der privaten und öffentlichen Interessen unter den zwingenden Vorbehalt, dass die Bürger zugleich klug und fromm sein müssten. Und J.S. Mill würde heute von Westerwelle mit Schaum vor dem Mund als Linksextremist verhetzt, der babylonische Zustände für die fiesen Faulenzer.. usw... *würg*

     

    Was zum Kuckuck hat maridierende neoliberale Oligarchie mit Bürgertum zu tun? Und wenn man mit der "Tante", die dem Kapital den Schwanz lutscht, hausieren geht, dann sollte doch bitte der Name NZZ nicht unterschlagen werden.

  • F
    Fritz

    Dass dieser dialektische Lobgesang auf die "bürgerliche Zeitung" in der TAZ erscheint, ist ja vielsagend. But it's not over until it's over ... diesen Text lese ich ja jetzt im Netz. An mir selbst - klassischer blödsinniger Zeitungsverschlinger seit der Jugend - mache ich überhhaupt die Beobachtung, dass ich noch nie so viel journalistische Ware zu mir genommen habe wie jetzt. Das Netz ist ja das Schlaraffenland des Zeitungslesers. Vielleicht kommen die Tagesnachrichten ja doch noch auch und gerade im Netz ihrer ursprünglichen Utopie näher, sobald wir mir der Übergangskrise durch sind? Das hängt allerdings an den Lesern und Schreibern, nicht mehr an den Verlegern.

    Nebenbei: Schön wie Seeßlen selbst demonstriert, was er an der Zeitung geliebt hatte.

  • J
    JMS

    Ich finde es seltsam, dass in einer Zeitung darüber berichtet wird, dass sie als Statussymbol gelten sollte oder galt.

    Das hört sich bei mir so an, als wolle ein Medium seinen PLatz behalten.

    Das es andere Möglichkeiten gibt sich zu informieren, teilweise mit wesentlich mehr Fachwissen als in den Zeitungen, wird einfach abgehandelt als "ist so nicht wahr". Natürlich befindet man sich in einer Info-Bubble wenn man nur Google nutzt und dann Informationen bekommt die einen bestätigen. Aber zu oft habe ich mich über schlecht recherchierte Berichte aufgeregt. Hier gilt meiner Meinung nach der alte Spruch: "Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die ... halten!" Wenn ich also nach Spezialwissen suche, dann nicht mehr in einer Zeitung, der ich inzwischen auch leider keine investigative Recherche mehr zutraue.

     

    Die Zeitungen haben sich an den Markt gewand und wollten scheinbar keine "Schwere Kost" mehr leifern. Dann sollen sie auch damit leben, dass sie aussterben. Sie machen keinen Unterscheid mehr zu den verschiedensten Blogs und wenn sind sie meistens schlechter informiert. Mit dem Leistungsschutzrecht haben sie sich auch nicht unbedingt Freunde gemacht, wenn man bedenkt, wie viele Authoren bezahlt werden.

     

    Ergo: Die Zeitungen nehmen sich meiner Meinung nach wichtiger als sie sind und wollen es zum großen Teil nicht einsehen. Wenn es in Zukunft keine mehr geben sollte werde ich ihnen nicht nachweinen sondern mir das breite Angebot aus dem Netz holen. Da habe ich mehr Meinungen und oft auch mehr INformationen als auf Papier.

     

     

    @Carlos Y Arragon: Warum ist es bitte kulturpessimistisch, wenn über ein Aussterben der Zeitungen geredet wird? Weil es ein liebgewonnenes Medium ist? das glaube ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass eine Elite sich die Zeitung erhalten wird, um eine Sonderstellung aus zu machen. Es wird eher nach den "Ewig Gestrigen" aussehen, die sich nicht daran gewöhnen wollen, dass das Papier nicht mehr benötigt wird.

  • CY
    Carlos Y Arragon

    Gute Analyse, dennoch mit einer immensen Schwäche: Alle Tageszeitungsleute blenden in ihren Kommentaren leider viel zu gerne eine ebenso einfache wie niederschmetternde Wahrheit aus: Die Tageszeitung und wie sie Neuigkeiten aufbereitet (egal ob bürgerlich oder blutrünstig) wird immer weniger gefragt sein. Diese Entwicklung läuft ab, ohne dass sie es ändern könnte. Und es nützt ihr auch nichts, sich zu ändern oder eine andere Richtung einzuschlagen, weil sie bei allen Änderung und Anpassungen stets (die nicht mehr so gefragte) Tageszeitung bleiben wird.

     

    Es ist doch eine einfache Rechnung: In 10 Jahren wird eine komplette Generation in ein für Medien wirtschaftlich interessantes Alter kommen, die seit ihrem (heutigen) 13. Lebensjahr zur Informationsbeschaffung NUR das Smartphone und soziale Netzwerke kennt. Und selbst wenn ein paar Wenige darunter sind, die ab und zu zu einer Tageszeitung greifen, die Tageszeitung wird ein Nischenprodukt sein.

     

    Ich bin kein Kulturpessimist, ich bin überzeugt, es wird weiterhin Tageszeitungen geben. Aber eben als teures und exklusives Nischenprodukt für eine vermeintliche Informations- und Bildungselite, die selbstverständlich alle dann modernen Medien eifrig nutzt, die Tageszeitung aber als äußeres Zeichen ihrer elitären Stellung braucht (so wie man vor 15 Jahren einen Blackberry gebraucht hat, um zu dieser Elite zu gehören).

     

    Warum ich davon überzeugt bin? Weil in einer Welt, die sich immer schneller dreht und nachrichtenmäßig hyperventiliert, "Entschleunigung" ein Elitenmerkmal sein wird - und eine Tageszeitung (übrigens auch Wochenzeitungen usw.) sind Entschleunigung in ihrer intellektuellen Form.

  • E
    ello

    Wenn einer nix zu sagen hat, dann schreibt er so einen Quark wie Seeßlen.

  • C
    Caro

    Es ist immer wieder ein intellektuelles, ästhetisches und sinnliches Vergnügen, die Kommentare von Herrn Seesslen zu lesen. Grade weil auch Widersprüche eingefangen, ausgelotet werden und gedankliche Differenzierungen stattfinden. Die Texte eröffnen immer wieder Räume, wo es Spass macht, weiter zu denken, Querverbindungen zu entdecken und zu scheinbar bekannten Dingen neue, ungewohnte Perspektiven zu entwerfen. Der Stil ist einmalig und unverwechselbar. Ganz großes Kino! Danke!