Debatte Wahlkampf: Streitet euch!
Müde Kanzlerkandidaten, harmoniesüchtige Wähler und zahme Parlamentarier: Der deutschen Politik fehlt es an Leidenschaft. Mehr Misstöne müssen her.
![](https://taz.de/picture/145882/14/parlament-suedkorea.jpg)
W as am Ende hängen bleibt, ist die Debatte um den von den Grünen vorgeschlagenen Veggie Day und bunte Hintern, was traurig und peinlich zugleich ist, nicht nur, weil die bunten Hintern von den Republikanern auf Plakate gedruckt wurden.
Außerdem bleiben noch: das Gefühl, gelangweilt zu sein, und die Frage, ob man denn ausreichend informiert ist. Ob es tatsächlich sein könne, dass es kaum etwas gab, worüber man nachdenken, mit Freunden streiten, diskutieren hatte können, oder ob man schlecht zugehört hat, nicht begeistert genug gewesen war.
Vielleicht haben die einen aber auch nicht genug begeistert. Dass Politiker Phrasen dreschen – vor, nach, während des Wahlkampfs und auch zwischendrin – ist selbstverständlich nicht neu. Dass die Politiker, auch die öffentlichkeitserfahrenen wie die Bundeskanzlerin, oder der, der angeblich ihren Job übernehmen möchte, obwohl man ihm das nicht so recht abnehmen wollte in den vergangenen Wochen, aber plötzlich stammeln, einander mitten im Wahlkampf manchmal beinahe hofieren und dabei manchmal so wirken, als würden sie selbst vor Langeweile beinahe einschlafen, das ist neu.
Wer nicht alt genug ist, um an Willy Brandt zurückzudenken, wird sich zumindest – fast sehnsüchtig – an Gerhard Schröder erinnern. Dem passierten im Wahlkampf zumindest amüsante Fehler wie „Frauen und das ganze Gedöns“.
Was ist los? Trauen sie sich nicht? Oder ist die Harmoniesucht so groß? Und wenn Letzteres der Fall ist, ist es die der deutschen Wähler, die in ihrer großen Mehrheit schon immer in der Großen Koalition die beruhigende Lösung sahen? Oder die der Politiker selbst?
Heutzutage verhält man sich, auch diejenigen auf der politischen Bühne, die hoch hinaus wollen und uns, unser Land führen sollen, heutzutage verhalten wir uns alle politisch korrekt und sind anderen Meinungen gegenüber so tolerant, dass wir vorsichtshalber lieber die Klappe halten. Eine Krankheit, die um sich greift. So toll sind wir, so offen für andere Meinungen, dass wir lieber gar nichts sagen. Vor lauter Harmoniestreben wird nicht gestritten, erst recht nicht: mit Leidenschaft argumentiert, dabei mit den Händen gewedelt, die Stimme variiert, sich aufgeregt gar – es könnte ja den Mitmenschen auffallen, dass man eine Meinung hat (wenn man sie denn hat, aber das ist eine andere Frage).
Harte Worte im Bundestag
Politikverdrossenheit wird den Bürgern vorgeworfen, über Wahlbeteiligung macht man sich Sorgen. Politikverdrossen wirken aber spätestens seit diesem Sommer die Politiker selbst. Als könnten sie sich für ihre eigenen Inhalte nicht begeistern, als wüssten sie – schlimmstenfalls – nicht, was ihre eigenen Inhalte sind. Früher ging es im Bundestag auch sprachlich zur Sache: „Übelkrähe“, „Mini-Goebbels“, „Dreckschleuder vom Dienst“, hörte man da, Franz Josef Strauß wiederholte gern: „Irren ist menschlich, aber immer irren ist sozialdemokratisch.“
Heute wartet man vergeblich auf druckreife Sprüche, vielleicht, weil keiner genau weiß, was die Sache ist, um die man sich streiten könnte. Ein bisschen Euro-Rettung, ein wenig Mindestlohn, und selbst die vielversprechende NSA-Affäre verpufft im Nu.
Die Wahlkampfstrategie der SPD beschränkt sich augenfällig darauf, die Opponenten in ein schlechtes Licht rücken zu wollen, eine Strategie, die zwar fragwürdig ist, aber sich per definitionem bestens für markante und fiese Sprüche sowie Schlagzeilen eignet. Stattdessen wiederholte Peer Steinbrück im Kanzlerkandidaten-TV-Duell wie ein Mantra, dass das Land „Richtung und Richtlinien“ brauche, was, nun ja, geradezu dafür prädestiniert ist, die Zuschauer aus ihren Polstermöbeln zu reißen und mit Tränen der Begeisterung in den Augen und erhobener Faust „Ja, genau!“ rufen zu lassen.
Eine Steilvorlage für Merkel
Währenddessen antwortet Angela Merkel auf die Frage, ob ihr Herausforderer, der sogar in der Öffentlichkeit geweint hatte, ihr in den vergangenen Wochen leidgetan habe – eine Steilvorlage, denkt sich der Zuschauer und freut sich auf ihre Reaktion –, nein, das habe Peer Steinbrück nicht nötig. Ja, wir haben uns alle lieb, sind zivilisiert, höflich und tolerant. Da wünscht man sich als Zuschauer beinahe Berlusconi auf die internationale Politikbühne zurück, den konnte man zumindest noch mit Leidenschaft hassen.
Bei dieser Bundestagswahl wird nicht eine Partei, auch nicht ein Kanzlerkandidat, erst recht aber nicht eine Vision gewählt, sondern einfach das geringste Übel.
Sieht so aus, als hielten sich die am 22. September zur Wahl Stehenden streng an Helmut Schmidt, der sagte: „Wer eine Vision hat, der soll zum Arzt gehen.“
Zum Arzt wollen sie offenbar genauso wenig wie an die Regierung.
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