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Debatte StudiumTraining für Großbürokratien

Kommentar von Stefan Kühl

Die neuen Studiengänge benachteiligen Kinder aus der Unterschicht genauso wie die Alten. Der heimliche Lehrplan ist Schuld daran.

Der Juristensohn scheint es leichter zu haben als die Bäckerstochter. Bild: ap

A n den Universitäten und Fachhochschulen lässt kaum noch jemand ein gutes Haar an der Bologna-Reform. Unterstützung kommt, wenn überhaupt, von außerhalb der Hochschulen: von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, von unternehmensnahen Stiftungen und einzelnen Journalisten. Von Letzteren wird jetzt ein neues Argument in die Bologna-Diskussion eingebracht: Bei der Reform möge vieles im Argen liegen, aber sie berge das „Potenzial, die Hochschulen gerechter zu machen“ (so Bernd Kramer, „Die Bachelorlüge“, taz vom 13.12.).

Die alten Magister- und Diplomstudiengänge seien einfach nichts für den „Sohn der Verkäuferin und die Tochter des Bäckers“ gewesen. Die aus bildungsfernen Schichten stammenden Studierenden wären in den „dahinwabernden Selbstlernprogrammen“ der alten Unis untergegangen.

Durch ein klar strukturiertes Bachelor- und Masterstudium würden die Universitäten jetzt endlich Kinder aus den Schichten der Gesellschaft anlocken, die bisher vor einem Studium zurückgeschreckt seien. Je stärker die Verschulung des Studiums, so Kramers Tenor, desto eher kommen Kinder aus den Unterschichten in die Hochschulen.

DER AUTOR

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Mit seinem Buch „Der Sudoku-Effekt. Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie“(transcript 2012, 19,80 Euro) löste er eine Debatte über die Bologna-Reform aus.

Scheitern an Selbstorganisation

Die Verfechter der Bologna-Reform haben dabei in einem Punkt sicherlich recht. In vielen Diplom- und Magisterstudiengängen wurden Qualifikationen verlangt, die in den Hochschulen selbst nicht systematisch vermittelt wurden. Studierende lernten nicht nur Germanistik, Physik oder Soziologie, sondern mussten sich vom ersten Semester an auch ihr Studienprogramm selbst zusammenstellen, sich in einer häufig anonym wirkenden Massenuniversität Lernkontakte aufbauen und sich selbst motivieren, schriftliche Arbeiten anzufertigen. Und zwar auch dann, wenn kein Lehrender Prüfungsdruck aufbaute.

Mit dem US-amerikanischen Erziehungswissenschaftler Philip W. Jackson lässt sich die Aneignung dieser Fertigkeiten als der „heimliche Lehrplan“ in den alten Studienstrukturen beschreiben. Viele Studierende, sowohl aus bildungsfernen als aus bildungsnahen Schichten, sind an seinen Anforderungen gescheitert. Diejenigen Studierenden jedoch, die unter diesen Bedingungen ihr Studium erfolgreich abgeschlossen haben, konnten am Ende nicht nur Germanistik, Physik oder Soziologie, sondern verfügten nicht selten auch über Selbstorganisations- und Selbstmotivationsfähigkeiten, von denen sie später im Berufsleben profitierten.

Im Zuge der Bologna-Reform wurde mit der Reduzierung der Wahlfreiheiten, der Verschärfung der Anwesenheitspflicht und der Inflation von Prüfungen dieser heimliche Lehrplan abgeschafft. In den meisten Bachelorstudiengängen beschweren sich Studierende nicht mehr über ein Zuviel an Wahlfreiheit, sondern beklagen sich eher darüber, dass sie wie Lerndrohnen auf Knopfdruck kurzfristig angeeignetes Prüfungswissen wiedergeben müssen.

Kafka an der Uni

Die Verschulung à la Bologna hat gleichzeitig zu einer Verschlechterung der Betreuung geführt, weil in den meisten Studiengängen dieselbe Anzahl von Lehrenden mehr Veranstaltungen anbietet und mehr Prüfungen abnehmen muss. Es gibt Studiengänge, in denen Lehrende zwar zu Beginn jeder Sitzung die körperliche Präsenz der Studierenden mit Anwesenheitslisten überprüfen, den Großteil ihrer Studierenden aber nicht mit Namen ansprechen können, wenn sie ihnen in der Mensa begegnen.

Trotz einer Erhöhung der sogenannten Kontaktzeiten mit Lehrenden haben Studierende am Ende eines drei- oder vierjährigen Studiums häufig mit keinem einzigen Dozenten und keiner einzigen Dozentin ein Gespräch über ihre individuellen Stärken und Schwächen geführt, geschweige denn mit ihnen ein zum Studiengang passendes individuelles Lernkonzept erarbeitet.

Und trotz Erhöhung des Prüfungsaufwands für Studierende gibt es in vielen Universitäten immer weniger individuelle Rückmeldungen zu den von den Studierenden geschriebenen Essays, Hausarbeiten und Klausuren, weil die Lehrenden mit der Korrektur der in Massenveranstaltungen abgelegten Prüfungen kaum noch hinterherkommen.

Angesichts dieser Studienbedingungen bildet sich in der deutschen Variante der Bologna-Reform ein neuer heimlicher Lehrplan aus. Studierende und Lehrende werden jetzt mit einer kafkaesk wirkenden Bildungsbürokratie konfrontiert. Von Bachelor-Studierenden wird verlangt, so jedenfalls die Planungsfantasie, dass sie genau 5.400 Stunden für ihren Abschluss studieren müssen.

Diese Stunden werden durch eine permanent wachsende Zahl von Studienadministratoren in Module mit vermeintlich klar definierten Lernzielen aufgeteilt, und jedes Modul inklusive Selbststudiumsanteil wird stundengenau vorausgeplant. Die bürokratisch korrekte Absolvierung wird dann durch IT-gestützte Campus-Management-Systeme überprüft.

Vorteil für den Juristensohn

Studierende lernen im neuen heimlichen Lehrplan, wie sie in hochbürokratisierten Organisationen unter Überlastungsbedingungen zu arbeiten haben. Wo bekommt man nach Vergleich der verschiedenen fächerspezifischen Bestimmungen eines Studiengangs möglichst günstig Leistungspunkte her? Wie stark muss man sich an die häufig über Hunderte von Seiten langen Modulhandbücher eines Studiengangs halten? Wo lohnt es sich, mit der Androhung einer Klage vor Gericht bei Dozenten eine zweite oder dritte Prüfungsmöglichkeit einzufordern?

Die Amerikaner nennen die Fähigkeiten, die sich in der Auseinandersetzung mit solchen Fragen entwickeln, „How to work the system“: Wie kann man bei möglichst geringem Aufwand möglichst viel aus einem System herausholen? Das mögen Fähigkeiten sein, die bei späteren Tätigkeiten in Großbürokratien wie der Deutschen Bank, der Deutschen Bahn oder der Bundesagentur für Arbeit besonders gefragt sind.

Die Aneignung dieser Fähigkeiten dürfte aber wohl gerade Studierenden aus jenen Bildungsschichten leicht fallen, die weniger Angst vor dem Kontakt mit bürokratischen Großorganisationen haben. Und das ist sicherlich eher der Juristensohn als die Bäckerstochter.

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6 Kommentare

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  • L
    lowandorder

    @von Krabbe:

    @lowandorder

     

    Ja, das Elternhaus kann eine schwere Hürde sein."

     

    Ja, aber bei weitem nicht die einzige;

    wie Regulator meint - ist doch klar, odr!?

  • K
    Krabbe

    @lowandorder

     

    Ja, das Elternhaus kann eine schwere Hürde sein.

     

    http://www.taz.de/!c102892/

  • M
    MattF

    Treffende Beschreibung.

     

    Das wichtigste ist Heute im Studium nicht mehr Wissen zu erlangen, selbst das was man den Fachhochschulen oft vorwarf, eine reine Berufsausbildung zu sein, selbst das ist nicht mehr der Fall.

    Das wichtigste für den Studierenden ist Credit-Points einzusammeln, ähnlich PacMan.

     

    Wie, womit und wofür ist völlig wurscht. Irgendwann hat man dann soviel Punkte, dass man eine B Urkunde bekommt und man lässt die Hochschule hinter sich.

     

    Ich denke mal in 30 Jahren werden sich viele fragen, was sie die 6 oder 7 Semester da eigentlich gemacht haben und es nicht mehr wissen.

  • L
    lowandorder

    @von Regulator:

    "Ich kann nicht glauben, dass es so grosse Ungerechtigkeiten gibt…"

     

    Hört sich mehr so wie ' Die Regulatoren von Arkansas' an;

    die waren ja auch mit dem letzten Knoten schnell bei der Hand.

    Auf welchem Planeten leben Sie? - und der Glaube,

    sorry, ist für die Kirche reserviert!

     

    " Die einzige Hürde war, dass das Elternhaus…"

    - geht's noch?

    Ja, da schweigt denn doch des Sängers Höflichkeit!

  • R
    Regulator

    Ich kann nicht glauben, dass es so grosse Ungerechtigkeiten gibt. Aber man kann alles zerreden. Wie haben es früher Arbeiterkinder geschafft zu studieren? Problemlos. Die einzige Hürde war, dass das Elternhaus es grundsätzlich mittragen musste, dass man nicht sofort in eine Ausbildung ging. Alles andere hat sich ergeben, damals wie heute. Aber heute muss ja alles ausgelichen und geregelt sein. Dabei - selbst wenn man jedem Studi einen Mentor auf die Füsse stellt, der alle Antworten auf Lernfragen, Lebensfragen und Wohnungsfragen vorgibt, wird es Ungerechtigkeiten geben, und sei es nur aufgrund der Sozialisation in der Kitagruppe.

    Tretet mal einen Schritt zurück und legt die Mängellupe aus der Hand. So wird ein lebenswertes Leben und Studium daraus.

  • L
    lowandorder

    Nach der Numerus-clausus-Verblödung, jetzt also die Verwüstung der Hochschulbildung via Bologna.

     

    Macht man sich klar, aus welch wirtschaftsorientiertem geistigem Sumpf ehemaliger Zeitschriften-Drücker aus Ost-Westfalen diese offensichtliche Mißgeburt gekrochen ist:

    " ik wunder mir über jarnüscht mehr!"

     

    Nc?

    Wenn ich mir das Zeugnis meiner Tochter1975 anschaue, muß ich lachen.

    Also ne " eins" - in der Oberstufe? bei meiner Penne? nö!

    Ne" zwei" in Mathe? ok, aber dann nicht in Physik!

     

    Aber - " ich geb Ihnen keine zwei mehr in Chemie!" - " na, dann lassen Sie's doch bleiben, Wiedersehn!"

     

    Klar. Nc war Piepenbrink-egal.

    Der konnte mir mal am Hobel blasen.

    Wie der Deutschlehrer auch.

    Nur Jens wollte statt ner "vier" , ne

    " drei" ! in Mathe wg Nc - kriegte er.

    Schnitt? irgendwas bei 2,3 - damit ziehste heute keinen müden Hering mehr vom Teller.Egal!

     

    Studium. Repetitor? Nö - Vierer-Arbeitsgruppe! Seminare;

    Vorlesungen; ? ja - sonst Abstimmung mit den Füßen!

     

    Zum heimlichen Lehrplan stimme ich Stefan Kühl voll zu;

    nur hatten wir diese Selbstorganisation wg Dauerkrieg in der Oberstufe eh

    schon gut drauf: " Schule soll soziale skills beibringen und das Lernen-lernen vermitteln" - meine These.

     

    Die Zielrichtung von Bologna sehe ich treffend beschrieben. Ausgrenzung, Abrichtung und Austreibung des letzten sniffs of freedom und der Fähigkeit der Selbstorganisation.

    ( Lehrplan perverse).

     

    Die Unterschicht soll abgehalten werden - sowieso; die Mittelschicht soll kastriert, um Reste ihres

    " widerborstigen" Bildungsvorteils gebracht werden.

    Damit manifestiert sich die soziologische Erkenntnis, daß Systeme, Organisationen dazu tendieren, ihre " Insassen" als Störfaktoren zu begreifen, sie letztlich vernichten zu wollen.

    Unsere Unis sind - mit so einem Systemprogramm - erkennbar keine Ausnahme (mehr).

     

    Fazit: Nach 30 Jahren Job: - was über Selbstorganisation, grade im Studium von 8 Sem. (Arbeitsgruppe & ca 10 Seminare) gelernt wurde, bleibt präsent, variabel anwend- und vernetzbar und ist mühelos zu ergänzen.

    Bekannt: so funktioniert Gedächtnis und strukturelle Intelligenz.