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Debatte SicherheitsverwahrungAus Prävention wird Strafe

Christian Rath
Kommentar von Christian Rath

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zwingt zur Reform der Sicherungsverwahrung.

Rund fünfhundert Menschen sitzen derzeit in Deutschland in Sicherungsverwahrung. Sie haben ihre Haftstrafe verbüßt und müssen dennoch im Gefängnis bleiben. Diese "Haft nach der Haft" wird damit gerechtfertigt, dass die Verwahrten fortdauernd gefährlich sind. Die Verwahrung ist der drakonischste Eingriff, den das deutsche Sicherheitsrecht kennt. Jetzt muss die Sicherungsverwahrung reformiert werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass die Verwahrung aus europäischer Sicht keine Prävention, sondern Strafe ist. Diese Entscheidung eröffnet rechtsstaatliche Chancen, aber auch Risiken.

Das Straßburger Urteil wirkt auf den ersten Blick fortschrittlich. Nun müssen rund 70 Menschen aus der ohnehin suspekten Sicherungsverwahrung entlassen werden. So geht der renommierte Psychiater Norbert Leygraf davon aus, dass man aufgrund prognostischer Schwierigkeiten zehn Personen vorsorglich einsperren muss, um auch einen wirklich gefährlichen festzuhalten. Andererseits gibt es auch Menschen wie Reinhard M., den Kläger in Straßburg. Er saß nicht aufgrund vager Prognosen in Sicherungsverwahrung, sondern weil er nach jeder Haftentlassung gleich wieder rückfällig wurde, oft sogar schon im Gefängnis oder im Rahmen von Vollzugslockerungen. Zwei Mordversuche und viele andere Gewaltdelikte gehen auf sein Konto. Wenn nun Menschen wie er aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden, ist das kein Grund zur ungetrübten Freude.

Bild: privat

Christian Rath ist rechtspolitischer Korrespondent der taz. 2007 erhielt er den renommierten Pressepreis des Deutschen Anwaltsvereins für seine beharrliche Berichterstattung über die polizeiliche Ausspähung privater Computer.

Zwar muss ein demokratischer Staat damit leben, dass auch vermeintlich gefährliche Menschen frei kommen, wenn rechtsstaatliche Fehler gemacht wurden. Hier liegt der Fall aber eher andersherum, denn das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte ist falsch. Die Sicherungsverwahrung ist keine Strafe, sondern Vorbeugung. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht 2004 in einem überzeugenden Urteil entschieden. Eine Strafe ist auf Straftaten in der Vergangenheit bezogen und wird im Umfang durch die Höhe der Schuld bestimmt. Die Sicherungsverwahrung will dagegen Gefahren in der Zukunft abwehren und ist durch die angenommene Gefährlichkeit des Täters bedingt. Wenn der verwahrte Täter nicht mehr gefährlich ist, muss er sofort entlassen werden. Deshalb ist die Sicherungsverwahrung eindeutig eine Prävention, keine Sanktion.

Besonders ärgerlich ist aber, dass das EGMR-Urteil vom letzten Dezember vor einigen Tagen überraschend rechtskräftig wurde. Die Straßburger Richter ließen das deutsche Rechtsmittel nicht einmal zur Verhandlung zu. Ohne Begründung entschieden die Richter, dass die Frage keine grundsätzliche Bedeutung habe. Ein Affront, eine Selbstherrlichkeit, die die Akzeptanz des Straßburger Gerichts nicht erhöhen wird. Der scheidende Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier hat am Freitag bereits gefordert, dass sich der EGMR nicht mehr in Staaten einmischen soll, die eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit haben.

Strafe oder nicht - Auswirkungen hat dies auf die Frage, ob Verschärfungen der Sicherungsverwahrung auch für jeweils bereits einsitzende Täter gelten. Karlsruhe hat dies zugelassen, zu Recht, denn Prävention muss sofort wirken. Das Straßburger Urteil sorgt aber dafür, dass Gesetzesänderungen zur Sicherungsverwahrung nur für Neuverurteilte wirken, also erst Jahre später - nach Verbüßung der eigentlichen Strafhaft. Nun müssen alle Verwahrten entlassen werden, die schon 1998 verurteilt waren, als der Bundestag die zehnjährige Befristung der Sicherungsverwahrung aufhob.

Will der Bundestag solche Rückwirkungsprobleme künftig vermeiden, müsste er die Sicherungsverwahrung so ausgestalten, dass auch Straßburg sie nicht mehr als Strafe einstuft. So könnte darauf verzichtet werden, die Sicherungsverwahrung nur nach bereits begangenen Straftaten zu verhängen. Doch das verbietet sich von selbst. Denn dann würde jemand nur aufgrund von prognostischen Gutachten weggesperrt. Im Gegenteil ist sogar darauf zu bestehen, dass nur Rückfalltäter und nicht auch Ersttäter in die Sicherungsverwahrung kommen.

Wenn Straßburg moniert, dass es in der Sicherungsverwahrung keine ausreichenden Therapiemöglichkeiten gibt und die psychologische Betreuung der oft perspektivlosen Häftlinge schlecht ist, dann gilt dies für Langstrafer genauso. Der EGMR spricht richtige Punkte an, die bei der Unterscheidung von Strafe und Prävention aber gerade nicht den Unterschied ausmachen sollten.

Bleibt am Ende nur die Ausgestaltung der Haftbedingungen in der Sicherungsverwahrung. Wer vorsorglich inhaftiert wird, sollte zum Beispiel eine deutlich bessere Ausstattung seines Haftraums bekommen, deutlich bessere Freizeitmöglichkeiten und deutlich großzügigere Besuchsregelungen als derjenige, der eine Strafe absitzt. Und damit dies in den Gefängnissen nicht zu Neid und Unruhe führt, sind auch separate Anstalten für Sicherungsverwahrte sinnvoll. Nur wenn die Politik dies wagt (und es aushält, dass die Bild-Zeitung von "Hotel-Vollzug" krakeelt), wird das Urteil unter dem Strich positive rechtsstaatliche Folgen haben.

Umgekehrt besteht aber auch die Gefahr, dass nun die Regeln der Sicherungsverwahrung ganz massiv verschärft werden, um nie wieder Rückwirkungsprobleme zu bekommen. Der ehemalige Generalbundesanwalt Kay Nehm hat diese Richtung vorgegeben. Bei bestimmten Tätergruppen, insbesondere Sexualtätern, soll die Sicherungsverwahrung automatisch angeordnet werden. Der Täter müsste dann nach Verbüßung der eigentlichen Strafe stets beweisen, zum Beispiel durch eine erfolgreiche Therapie, dass er nicht mehr gefährlich ist.

Absehbar säßen dann Tausende in Sicherungsverwahrung, nicht nur Hunderte. Aber die Straßburger Vorgaben wären erfüllt. Eine derartige Reform wäre ein Pyrrhussieg für die Rechtsstaatlichkeit. Die Sicherungsverwahrung darf aber nicht zur Regel werden, sondern muss die seltene Ausnahme für wiederholte Rückfalltäter bleiben.

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Christian Rath
Rechtspolitischer Korrespondent
Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).

5 Kommentare

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  • TF
    Thomas Feltes

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat also „eine falsche Entscheidung“ getroffen, so Christian Rath. Warum diese Entscheidung falsch ist, erfährt der Leser leider nicht. Dafür behauptet Rath, die Sicherungsverwahrung sei keine Strafe, sondern Vorbeugung und daher zulässig – und widerspricht sich dabei selbst. Zuerst zitiert er den Psychiater Leygraf der sagt, dass man 10 Menschen einsperren muss, um einen wirklich gefährlichen festzuhalten. Das Problem kann man auch nicht mit „besseren Haftbedingungen“ lösen, wie Rath dies dann vorschlägt und dabei von „vorsorglicher Inhaftierung“ spricht. Haft geht aber einher mit Strafe, eine Maßregel wird vollzogen und die Person untergebracht (und eben nicht „inhaftiert“). Tenor des Beitrages ist also: Im Zweifel erst malwegsperren, dann in Watte packen, schöne neue Anstalten bauen und schon ist das Problem erledigt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dass wir fast 50 Jahre ohne dieses sehr zweifelhafte und vom EGMR jetzt zu Recht kritisierte Instrument ausgekommen sind (wie übrigens fast alle anderen europäischen Länder auch) wird ebenso verschwiegen wie die Tatsache, dass eben nicht nur Mörder in der Sicherungsverwahrung sitzen - im Gegenteil, sie machen die Minderheit aus. Und dann (zu) viele unberechtigt dort verwahrt werden, scheint für Rath auch kein Problem zu sein. Denn immerhin hat eine Studie der Ruhr-Universität Bochum aus dem letzten Jahr gezeigt, dass weniger als 5% der als „gefährlich“ vom Strafvollzug eingestuften und teilweise auch von Gutachtern so prognostizierten Gefangenen tatsächlich einschlägig rückfällig wurden.

  • M
    Michael

    lächerlich dieser ganze Artikel Wie kann man so schlau sein und glauben das es keine Strafe wäre jemanden für immer Wegzusperren? Man sollte vlt. mal die Richter vom Bverfg wegsperren und den Autor damit Sie mal sehen was es heist für immer im Knast sitzen zu müssen. Jemand wie Hans-Jürgen Papier sollte man gleich als Richter ablösen, das Bverfg ist nicht in der Lage recht zu sprechen sondern einfach nur der Meinung aus Politik oder Gesellschaft zu folgen, das kann man ganz gut an Ihren urteilen sehen. Wo halt der Druck am größten ist da folgt man Ihm einfach.

  • W
    willy

    Wieder mal ein typischer Rath-Kommentar!

    Total zynisch !

    Ja Herr Rath!

    Schon die Überschrift ist voller Zynismus: "Die Sicherungsverwahrung ist eine Prävention, keine Sanktion"

    Das bitte sagen Sie mal jemanden, der wirklich in Sicherheitsverwahrung sitzt und keinerlei Hoffnung hat, wieder ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit führen zu können.

    Ob derjenige wirklich den Unterschied zwischen Strafe und Prävention merkt? Ich glaube, eher nicht!

    Eingesperrt ist eingesperrt.

    Und Ihr dümmliches Geschwätz von einer Verbesserung der Haftbedingungen für MENSCHEN in Sicherungsverwahrung in Form von besserer Haftraumausstattung und besseren Freizeitmöglichkeiten zeugt einfach nur von Ihrer Unkenntnis der Haftbedingungen oder von Ihrem Zynismus!

    Wie wäre es denn, Ersttäter schon vor Ihrer ersten Tat zur Sicherungsverwahrung zu verurteilen?

    Minority-Report?

    Dann haben wir endlich absolute Sicherheit!

  • JV
    Jorge Videira

    Hat Christian Rath nie davon gehört, dass Menschen sich ändern könne und nach 15 Jahren nicht mehr die sind, die sie einmal waren?

     

    Oder hat es ihn gewurmt, dass der EGMR wieder einmal den Deutsche gezeigt hat, dass bei ihnen die Menschenrechte zu kurz kommen? Warum sonst beruft er sich auf Hans-Jürgen Papier und seinen dummen Vorschlag? Gerade die Debatte um "Das Erbe von Herrn Schill" zeigt, dass Deutschland mitnichten eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit hat.

     

    Die Tendenz seines Artikels zeigt jedenfalls Parallelen zur Bild-Berichterstattung.

  • G
    Gerd

    Außgerechnet in der taz einen Kommentar zu lesen, der im Kern die Sicherungsverwahrung, also Wegsperren ohne Urteil, nur auf Grund von Prognosen, rechtfertigt, ist schon etwas befremdlich.

     

    Wie Herr Rath schon selbst sagt, Prognosen dieser Art sind mehr als fraglich. 10 Leute wegsperren, um vielleicht einen richtigen zu treffen - also 9 unschuldig?

     

    Als Experte legt Herr Rath auch erstaunlich viel Naivität an den Tag, was das Vertrauen in die Justiz angeht. Dort ist längst nicht alles in Ordnung und nicht erst seit dem spektakulären Ausbruchsversuch aus der JVA Aachen letztes Jahr zeigt sich, wie perspektivlos gerade Langzeitgefangene in deutschen Gefängnissen dahinvegetieren. Weil eher viel zu lange als zu kurz eingesperrt wird und Menschenrechte hinter Gittern oft mit den Füßen getreten werden. Ein Thema übrigens, das früher auch die taz aufgegriffen hatte und das inzwischen anscheinend völlig Tabu ist?

     

    Dieser Justiz zusätzlich die Möglichkeit zu geben, Leute nur auf Verdacht einzusperren, ist in gewisser Weise verantwortungslos. Die Theorie (ist ja nur präventiv, keine Strafe) mag einleuchtend klingen, was das für praktische Auswirkungen haben kann, wird nicht oder kaum zuende gedacht (und kommt in dem Artikel nur am Ende kurz vor).

     

    Wegsperren ohne Urteil, nur auf Verdacht, hat in einem Rechtstaat schlichtweg nichts verloren. Die Sicherungsverwahrung, 1933 von den Nazis eingeführt, ist eine als Prävention kaschierte Strafe, ein juristischer Trick, um die Menschenrechtskonvention zu umgehen - weswegen der EuGH völlig Recht hat, wenn er sie kassiert. Ich bin schockiert, dass die taz hier de facto diesselbe Meinung vertritt wie die ganze konservative Kopf-Ab-Wegsperr-Presse. Ist Grün eben doch nur lackiertes Schwarz?