Debatte Sexualstrafopfer: Bestrafen und heucheln
Gerechtigkeit durch harte Strafen: In Sexualdelikten steht meist der Täter im Mittelpunkt, das Opfer jedoch kommt oft zu kurz.
E in Frau wird von ihrem Vater viele Male vergewaltigt. Mit 17 Jahren hat sie den Mut, Anzeige zu erstatten. Im Laufe des Verfahrens stellt sich heraus, dass der Vater auch seine anderen fünf Kinder, Jungen wie Mädchen, sexuell missbraucht hat. Die Frau muss vor Gericht als Zeugin erscheinen. Der Vater wird zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
Um das Opfer kümmert sich niemand, ihre Mutter wendet sich von ihr ab, da sie die Familie zerstört habe. Heute ist die Frau um die 50, leidet unter vielerlei körperlichen und psychischen Beschwerden und ist in dauernder ärztlicher Behandlung. Ihre Anträge auf finanzielle Entschädigung wurden abgelehnt. So weit ein Fall aus der Praxis.
Seit es Staaten gibt, stehen die Täter im Mittelpunkt ihres Strafrechts. Dies gilt auch bei schweren Gewalt- und Sexualstraftaten. Infolge dieses täterzentrierten Denkens, das seinen Niederschlag zunehmend in der medialen Berichterstattung findet, werden immer längere Strafen beziehungsweise präventiver Freiheitsentzug gefordert. Die Täter werden mit steigendem Aufwand und für viel Geld von Psychiatern, Psychologen und anderen Fachleuten begutachtet und therapiert – die Kosten für die Behandlung nur eines Sexualmörders können im Laufe der Jahre in die Millionen gehen.
39, Jurist, Kriminologe und Psychologe. Er ist Abteilungsleiter in der JVA Straubing. Der Beitrag gibt seine persönliche Sicht der Dinge wieder, nicht die seines Dienstherrn, des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz.
Dabei ist es sehr umstritten, inwieweit Bestrafung und Behandlung Einzelner langfristig tatsächlich zur Reduzierung krimineller Taten beitragen. Mit den Tätern als Projektionsflächen großer Wut und Angst lässt sich gut Politik machen. Die dafür aufgewandten Ressourcen wären langfristig aber sinnvoller in eine umfassende Aufarbeitung individueller und gesellschaftlicher Ursachen von schädigendem Verhalten investiert. Die Erfolge solcher Bemühungen sind dann freilich erst in vielen Jahren sichtbar, sodass die Früchte nicht die ernten könnten, die sie gesät haben. Es scheint daher kein großes staatliches Interesse an einer echten wissenschaftlichen Hinterfragung des Phänomens der Gewaltkriminalität zu bestehen.
Solange Hintergründe und die Folgen des Umgangs mit Gewaltkriminalität im Unbewussten gelassen werden, lässt sich die Illusion aufrechterhalten, dass wir nicht, wie derzeit, strafen wollen, sondern müssen; und dass wir demzufolge noch für den schlimmsten Mörder alles zu tun haben – und das auch mit Aussicht auf Erfolg tun können –, um ihn wieder zu integrieren.
Nicht mitleiden wollen
Vielleicht ist eine Ahnung dieser Selbstverleugnung und ein daraus folgendes Schuldgefühl mitursächlich dafür, dass es kaum echtes Interesse an den Opfern gibt. Dem Menschen scheint es leichter zu fallen, harte Strafen für Täter zu fordern, statt Verständnis und Mitgefühl für Opfer aufzubringen – aus Angst, dann im wahrsten Sinne des Wortes mitleiden zu müssen.
Es sind aber die Opfer, die den Schaden erlitten und an ihm ein Leben lang zu tragen haben: Sie – und nicht der Staat – wurden sexuell missbraucht, geschlagen, beraubt, ihre Angehörigen wurden getötet. Diese Ungerechtigkeiten zuungunsten weniger gälte es solidarisch zu tragen und, soweit überhaupt möglich, auszugleichen. Die staatliche Vergeltung in Form einer Übelzufügung am Täter mag manche Opfer kurzfristig befriedigen, ein annähernder Ausgleich des ihnen geschehenen Unrechts ist dadurch nicht möglich. Vielmehr sind sie sogar gezwungen, dem Staat bei der Geltendmachung seines Strafanspruchs zu helfen, indem sie wie eingangs beschrieben als Zeugen aussagen müssen – und dadurch erneut in eine passive Rolle gedrängt werden.
Zwar wurden im Laufe der letzten Jahre einige bemerkenswerte Fortschritte hinsichtlich der Interessen der Opfer im Strafrecht erzielt: So wurden etwa Stiftungen zur Opferhilfe eingerichtet, im Strafverfahren ist es seit 2009 möglich, dass Aussagen von Opfern unter 18 Jahren aufgenommen und dann in der Hauptverhandlung anstelle einer persönlichen Vernehmung wiedergegeben werden. Nach wie vor fehlt aber ein langfristiges und staatlich gestütztes Sichkümmern um sie. So sind sie für den Erfolg der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen – die gegen die Täter meist aussichtslos sind – vor allem auf das Opferentschädigungsgesetz angewiesen und gegebenenfalls auf die Unterstützung durch Krankenkassen und Opferhilfevereinigungen.
Keine Rede ist aber davon, dass ihnen jahrelang ein staatliches Team von Experten zur Aufarbeitung des Geschehenen beiseite stünde, wie dies gerade bei den schwersten Straftätern der Fall ist. Das schadet nicht nur den unmittelbar Betroffenen, sondern der ganzen Gesellschaft. Viele Straftäter waren, vor allem in ihrer Kindheit, selbst Opfer von Missachtung, Misshandlung oder Missbrauch. Sie müssten als Opfer langfristig bei der Aufarbeitung ihrer Traumata unterstützt werden, um künftige Straftaten vermeiden zu helfen.
Harte Konsequenzen
Auch wenn bei Weitem nicht alle Opfer zu Tätern werden, so leiden viele doch oft ein Leben lang, brauchen kostenintensive medizinische und sonstige Hilfe und bleiben zum Teil arbeitsunfähig. Eine frühzeitige, intensive und ausdauernde Unterstützung würde ihre Heilungschancen erhöhen und am Ende sogar Kosten sparen. Auch würde es vielen Opfern guttun, wenn sie deutlich mehr über das Vorgehen gegen den Täter mitentscheiden dürften und damit ein Stück verloren gegangener Wirkmächtigkeit zurückgewinnen könnten.
Jeder, der anderen Schlimmes antut, muss mit harten Konsequenzen rechnen, schon als spür- und sichtbares Zeichen allgemeiner Missbilligung. Auch der Versuch einer „Resozialisierung“ von Straftätern mit vernünftigem Einsatz knapper Ressourcen bleibt sinnvoll.
Ein Strafrecht jedoch, das versucht, Unrecht fast ausschließlich auszugleichen und zu vermeiden, indem es vergeltend und vorbeugend auf einzelne Täter einwirkt, ist Ausdruck einer pharisäerhaften Gesellschaft, die zur Wahrung eines positiven Selbstbildes nicht nur die gesellschaftlichen Mitursachen und Folgen jeder individuellen Straftat, sondern auch die Ursachen und Folgen des Strafens selbst ausblendet.
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