Debatte Schule: Lernt eure Geschichte
Die Schule soll vor allem mehr Spaß machen? Das Wissen um das Vergangene soll sie erhalten – und das Mittelmaß optimieren.
E s ist nun schon über eine Woche her, dass der neue Fernsehphilosoph Richard David Precht den bereits legendären Satz sprach: „Wir überhäufen die Kinder mit einem Wissen, das aus der Vergangenheit stammt.“ Es ist mir noch immer nicht gelungen, diesen Satz zu vergessen. Die erste „Precht“-Folge hieß Bild-Zeitungs-kompatibel „Skandal Schule – Macht Lernen dumm?“
Es ist mutig, als Philosoph bereits in den allerersten Minuten seiner ersten Sendung zum Anwärter auf den einfältigsten Satz des Jahres zu werden. Und trotzdem, seit über einer Woche schaue ich mir die Dinge, Menschen und Verhältnisse unter diesem Aspekt viel genauer an: Woher stammen sie eigentlich?
Das Deutsche Theater in Berlin begann die neue Spielzeit mit einem Paukenschlag: Stephan Kimmigs „Ödipus Stadt“, das bedeutete vier Stücke an einem Abend, zuerst „Ödipus“ von Sophokles, gefolgt von „Sieben gegen Theben“ von Aischylos, „Die Phönizierinnen“ von Euripides und Sophokles’ „Antigone“. Woher stammen diese Stücke? Gewissermaßen aus der Vorvergangenheit. Ginge alles mit rechten Precht’schen Dingen zu, müssten die Autoren ungefähr 2.500 Jahre dümmer sein als wir. Oder sind sie 2.500 Jahre klüger?
Geschichte heißt Verhängnis
Lange hat das Deutsche Theater keinen so großen Abend mehr erlebt – mit Ulrich Matthes als Ödipus, Sven Lehmann als blindem Seher Teiresias und Susanne Wolff als Kreon – , und die Faszination hat einen Namen: gefühlte, gedachte Zeitgenossenschaft über mehrere tausend Jahre hinweg.
Die Antike kannte keine Heilsgeschichte, nicht die Vorstellung, dass es immer besser werden könnte mit uns, im Gegenteil: Kein Handeln ist ohne Schuld, Geschichte ist ein anderes Wort für Verhängnis. Wer hätte wachere Sinne für solche Botschaften als wir?
Wer dem, was dem Zuschauer an diesem Theaterabend geschehen ist, einen möglichst abschreckenden Namen finden wollte, dürfte auch von einem Bildungserlebnis sprechen. Und um Bildung ging es, als der Nachfolger von Sloterdijk und Safranski Richard David Precht sich mit dem Neurobiologen und Hirnforscher Gerald Hüther über den „Skandal Schule“ unterhielt.
Hüther findet, dass die Schule Begeisterung fördern statt mit Wissen traktieren soll. Die Synapsen, weiß der Hirnforscher, arbeiten euphorisiert besser. Darum werde die Schule der Zukunft auch keine Lehrer mehr kennen, sondern nur „Potenzialentfaltungscoaches“. Welch Wort des reinen Schreckens! Aber Precht wiederholte die Zeitgeistvokabel mit kindlichem Wohlgefallen.
Ein seltsamer Philosoph. Einer, dem die Tatsache, dass Erwachsene das meiste von dem, was sie in der Schule noch wussten, schon wieder vergessen haben, als kardinaler Einwand gegen die Schule gilt. Einer, der mit keinem Gedanken die eigentlich philosophische Dimension des Themas Schule streift: Sie ist nicht unbedingt der Ort, an dem Kinder so viel Spaß wie möglich haben müssen, sondern sie ist die Hüterin eines kulturellen Zusammenhangs.
Und jetzt zu Nietzsche
Nur wer eine Vergangenheit hat, wird auch eine Zukunft haben. Nur wer weiß, woher er kommt, wird auch sagen können, wohin er will. Es ist ein höchst gefährdetes Gewebe. Die Zahl derjenigen, die selbst mit Abitur die Schule gleichsam als leeres Blatt verlassen – fast unbeschriftet, ohne jedes Herkunftswissen – , nimmt dramatisch zu.
Im Frühjahr 1871 brannte Paris, und eine Nachricht lief durch Europa: Die Kommunisten haben den Louvre angezündet. Friedrich Nietzsche in Basel war, „aufgelöst in Thränen und Zweifeln“, keiner Bewegung mehr fähig. Der Philosoph Precht kann mit dem Philosophen Nietzsche nicht viel anfangen, aber Nietzsche ginge das wohl genauso: „Was ist man, solchen Erdbeben der Cultur gegenüber? Sein ganzes Leben und seine beste Kraft benutzt man, eine Periode der Cultur besser zu verstehen und besser zu erklären; wie erscheint dieser Beruf, wenn ein einziger unseliger Tag die kostbarsten Documente solcher Perioden zu Asche verbrennt! Es ist der schlimmste Tag meines Lebens.“
Ja, fühlte er denn gar nicht so etwas wie Befreiung, wenn das Wissen und die Schönheit von vorgestern endlich weg sind? Er sagte doch selbst, dass die Philologen seit Jahrhunderten versuchen, die in die Erde gesunkene umgefallene Statue des griechischen Altertums wiederaufzurichten, und „immer wieder, kaum vom Boden gehoben, fällt sie wieder zurück und zertrümmert die Menschen unter ihr“. Wie tragisch! Und minderte der Brand des Louvre nicht aufs Erfreulichste die Gefahr, von einer griechischen Statue erschlagen zu werden? Friedrich Nietzsche zu verstehen heißt zu verstehen, dass er eben so nicht dachte.
Schule optimiert das Mittelmaß
Mag es uns kulturellen Spätlingen als Inbegriff eines tragischen Endes erscheinen, von einer griechischen Statue oder auch nur von einem Blumentopf erschlagen zu werden. Friedrich Nietzsche sind die zertrümmerten Philologen egal. Außerdem handelt es sich nach Aristoteles ausdrücklich um einen nicht tragischen Tod, von einer Bildsäule erschlagen zu werden.
Was dem Professor Sorgen machte, war die Statue. Was, wenn sie beim ewigen Umfallen Schaden nimmt: „Wer steht uns dafür, daß dabei die Statue selbst nicht in Stücke bricht? Die Philologen gehen an den Griechen zu Grunde: das wäre zu verschmerzen. Aber das Alterthum bricht unter den Händen der Philologen in Stücke!“ Das Deutsche Theater zu Berlin hat sich soeben bleibende Verdienste um die Statue erworben.
Vielleicht müssen wir unseren Bildungsbegriff noch einmal überdenken. Es kann auch Terror bedeuten, wenn Kinder unablässig ihre eigene Kreativität entdecken müssen, selbst die Schule noch zum Labor der Selbstfindung werden soll. Nichts hat sich in den letzten zwei Jahrhunderten so gewandelt wie sie. Vielleicht sollten wir innehalten. Schule optimiert Mittelmaß. Es kommt darauf an, das zu bejahen. Wir vergessen vieles, was wir in der Schule lernen. Aber das ist etwas anderes, als nie davon gehört zu haben. Einmal davon gehört zu haben – vielleicht ist das die Basis jeder Kultur.
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