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Debatte SchuldfrageAufarbeitung wird Privatsache

Sonja Vogel
Kommentar von Sonja Vogel

Immer dann, wenn NS-Täterinnen im Mittelpunkt des medialen Interesses stehen, ist nicht Schuld, sondern Schuldfähigkeit das Thema. So auch in "Der Vorleser".

I mmer wieder sorgen filmische und literarische Darstellungen der Schoah für Aufregung. Kann man das Verbrechen angemessen fiktionalisieren, ohne es zu verharmlosen? So waren auch anlässlich von Stephen Daldrys kürzlich angelaufenem Film "Der Vorleser" zumindest in den USA durchaus kritische Stimmen zu lesen. In Deutschland gab es keine derartigen Diskussionen.

Bild: privat

Sonja Vogel studiert Gender-Studies. Im Verbrecher Verlag gibt sie das Buch "Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum" von Todor Kuljiç heraus.

Dabei wurde die Filmvorlage, Bernhard Schlinks gleichnamiger Roman, nach seinem Erscheinen 1998 auch hierzulande heftig diskutiert. Geschichtsrevisionismus wurde ihm vorgeworfen. Inzwischen zählt der Roman aber zur schulischen Pflichtlektüre und ist bis heute ein internationaler Bestseller. Die Kritik an der Vorlage scheint vergessen. Stattdessen heißt es nun, der Film nehme nicht genug Anteil am Schicksal der KZ-Wärterin Hanna Schmitz. Patrick Bahners, Feuilletonchef der FAZ, kritisierte, der erwachsene Michael Berg, Hannas früherer Liebhaber, verweigere "seiner zu lebenslanger Haft verurteilten ehemaligen Geliebten die elementaren Akte der Mitmenschlichkeit".

Eine seltsame Bemerkung, erklärt der Film doch, warum diese Mitmenschlichkeit verweigert wird. Auch Michael sieht sich nämlich im Nachhinein als Opfer der KZ-Wärterin Hanna Schmitz. Die Geschichte kurz zusammengefasst: Die faszinierend kühl wirkende Hanna hatte den 15-jährigen, schüchternen Michael verführt - da wusste er noch nichts von Hannas Arbeit in der SS - und zum täglichen Ritual gezwungen: Waschen, Vorlesen, Sex. Dass mit Hanna etwas "nicht stimmt", erfährt der Zuschauer, schon lange bevor sie wegen hundertfachen Mordes verurteilt wird: In einer Szene liegt das Paar in der Badewanne, der Junge liest eine anzügliche Szene aus "Lady Chatterly" vor, Hanna herrscht ihn an: "Das ist ja widerlich!" Als er stoppt, befiehlt sie: "Lies weiter!" Später wird sie ihn sogar schlagen. Es ist also nicht die SS-Vergangenheit, sondern die unmoralische Beziehung zu dem Schüler Michael Berg, die der Film Hanna als Hauptschuld anlastet. Ein jüdisches Opfer Hannas wird Michael später auch noch fragen: "Wusste sie, was sie Ihnen angetan hat?" Auf diese Weise wird der verführte Minderjährige auf eine Stufe mit den hunderten jüdischen Opfern gestellt, für deren Tod und Qualen Hanna verantwortlich ist.

"Der Vorleser" ist nur ein Beispiel für jüngere filmische Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus, in denen Täterinnen eine immer bedeutendere Rolle spielen und stets in eine unheilvolle Aura aus Verführung und Verbrechen gehüllt sind. Die Täterinnen sind schön, kühl und bestialisch, und nie fehlt der Verweis auf ihre mangelnde Zurechnungsfähigkeit, sei es aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Abhängigkeit als Frau oder anderer sozialer Beeinträchtigungen - man denke etwa an Guido Knopps Porträt von Magda Goebbels oder deren Darstellung in Oliver Hirschbiegels "Der Untergang". Aber auch an die Protagonistin des vielfach ausgezeichneten Films "Gegen Ende der Nacht" (1998): Sie ist eine schöne und kaltherzige KZ-Aufseherin, die einen US-Ermittler, der gegen sie vorgehen soll, verführt. Ein Film über die an der Schoah Schuldigen verwandelt sich in einen tragischen Liebesfilm - ganz so wie "Der Vorleser".

Doch gab es überhaupt NS-Täterinnen, die für eine derartige Darstellung die Vorlage bilden könnten? Eigentlich nicht. Als ein historisches Vorbild kann wohl Irma Grese beziehungsweise deren mediale Inszenierung gelten. Die im Bergen-Belsen-Prozess 1945 zum Tode verurteilte KZ-Aufseherin wurde als schöne "Hyäne von Auschwitz" dämonisiert, ihr Aussehen und die ihr nachgesagte außerordentlichen Brutalität stellten die Medien in den Fokus der Berichterstattung. Bis heute werden in den NS-Prozessen angeklagte Täterinnen aus einer anderen Perspektive betrachtet als ihre männlichen Pendants. An männlichen Tätern schockierte, wie normal sie waren. Weibliche Täterinnen aber werden nie als normal und nüchtern handelnd wahrgenommen, sondern immer als krank, maßlos und exzessiv.

Auch die Inszenierung der 2004 wegen Misshandlungen im Irak angeklagten US-Soldatin Lynndie England - im sexuellen Folterrausch und ihrem Vorgesetzten hörig - zeigt, dass diese Vorstellung von weiblicher Täterschaft noch immer gültig ist. Zur Täterin zu werden gilt bis heute als Zeichen weiblicher Devianz. Folgerichtig ist die Meinung, weibliche Nazis seien lediglich Handlangerinnen der Männer gewesen, bis heute weit verbreitet.

Werden Täterrollen im Film mit Frauen besetzt, dient dies vor allem der Exotisierung von Täterschaft. In der "Vorleser"-Verfilmung ist es Hannas Analphabetismus, also eine Form kultureller Unfähigkeit, die sie zur SS - und zu Michael - treibt. Da Hanna der Schriftsprache nicht mächtig ist, so wird suggeriert, sei auch ihr moralisches Bewusstsein geschädigt. Es ist also der soziale Mangel des Analphabetismus, der Hanna für den Massenmord verführbar gemacht hat: Wie hätte sie es auch besser wissen können?

So tritt im "Vorleser" mithilfe einer Frauenfigur die Frage nach der Schuldfähigkeit an die Stelle der Schuldfrage. Dies erinnert fatal an die Schuldabwehrstrategien der deutschen Nachkriegsgesellschaft - niemand konnte etwas gewusst haben, niemand hatte etwas unterschrieben. Herrschte etwa kollektiver Analphabetismus? Zudem wird im "Vorleser" die Schuld an der Vernichtung der europäischen Juden ausschließlich innerhalb der Liebesbeziehung von Hanna und Michael verhandelt. Durch zwischenmenschliche Kategorien wie Verrat, Missbrauch und Scham wird die Schuld an der Schoah vollends in den privaten Raum verbannt. Das gemeinsame Schweigen über die verbotene Beziehung der reifen, aber schuldunfähigen Täterin und dem unreifen, also unschuldigen Täter-Kind unterstreicht dies noch.

Eine solche geradezu inzestuöse Beziehung dient in der Literatur häufig als Platzhalter der Schoah, etwa in Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten". Stets verweist die mit einem Sprechverbot belegte Inzestbeziehung auf die Schoah als Familiengeheimnis Europas. In Deutschland ist diese Verdrängung des Verbrechens in den privaten Bereich kein geringer Teil der Nachkriegsgeschichte. Denkt man an Freuds Definition des Inzesttabus als kulturstiftend, katapultiert der vollzogene Inzest die Schoah, für die er steht, aus dem Kulturraum in die Vorzivilisation. "Der Vorleser" muss hierzulande einfach gefallen, denn er bestätigt in seiner behaglichen Darstellung, was sich sowieso längst etabliert hat. Das Verbrechen der Schoah wird zur Privatsache der Deutschen erklärt, die Einmischung der Opfer ist dabei nicht erwünscht. Die Täterinnen und Täter verschwinden derweil mitsamt ihren Taten hinter einem Schutzwall aus Schuldunfähigkeit - zu Ungunsten differenzierter Darstellungen von Täterinnen. Schuld ist nun einfach niemand mehr. Und die Schoah wird so zu einer Katastrophe, die einem Unwetter gleich auch über die Deutschen kam.

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Sonja Vogel
tazzwei-Redakteurin
Vollzeitautorin und Teilzeitverlegerin, Gender- und Osteuropawissenschaftlerin.

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