Debatte Rot-Rot-Grün in Hessen: "Bleiwe losse!"
Contra: Hessen wird das Projekt Rot-Rot-Grün nachhaltig beschädigen, und zwar bundesweit. Das Bündnis ist ein pures Fiasko, ausgelöst durch den Ehrgeiz von Ypsilanti.
Bleiwe losse!"
Wenn eine Politikerin ihr höchstes Gut - und das ihrer Partei -, die Glaubwürdigkeit nämlich, auf dem Altar der Macht opfert, muss die Not groß sein. Oder ihr Ehrgeiz. Die Not für die SPD in Hessen ist mehr als acht Monate nach der Landtagswahl im Januar tatsächlich ziemlich groß. Und der Ehrgeiz von Partei- und Landtagsfraktionschefin Andrea Ypsilanti ist laut der CDU "grenzenlos".
Klaus-Peter Klingelschmitt (56) ist Korrespondent der taz für Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland. Seine Schwerpunkte sind die Innenpolitik und Wirtschaft.
Die Chuzpe, mit der sich die Rüsselsheimerin jetzt ihres Wahlversprechens "Nie mit der Linken!" entledigt und das Bündnis mit der Linken sucht, ist nicht nur ein Affront gegen ihre Parteifreunde anderswo und die Wählerinnen und Wähler in Hessen, die eine von der Linken tolerierte Koalition der SPD mit den Grünen mit Zweidrittelmehrheit strikt ablehnen. Das zum Scheitern verurteilte - eigentlich nie gewollte - Linksbündnis schadet vor allem der SPD selbst: Die Vision einer Koalition aus SPD, Grünen und Linken wird nachhaltig beschädigt - und zwar nicht nur in Hessen.
Selbst wenn 56 Abgeordnete der (avisierten) rot-grünen Koalition und der tolerierungsbereiten Linken im Hessischen Landtag Ypsilanti Anfang November tatsächlich zur Ministerpräsidentin wählen sollten - schon um ihre Mandate im Falle einer Neuwahl nicht zu verlieren -, selbst dann ist nichts gewonnen. Mit maximal zwei Stimmen Mehrheit im Landtag ist unter den herrschenden Bedingungen ganz gewiss kein Staat zu machen. Die Minderheitsregierung aus SPD und Grünen ist jedem Basisveto und jeder Laune der Linken bei jeder Abstimmung ausgeliefert und muss sich im Konfliktfall von der Opposition vorführen oder gar überstimmen lassen. Schon jetzt, so sagen die Funktionäre, habe sich an der Basis der Linken "viel sperriges politisches Treibholz angesammelt". Und wenn auch nur ein rechter Sozialdemokrat aus der Reihe tanzt und einen Alleingang etwa mit Union und FDP wagt und ein anderer Genosse vor einer wichtigen Abstimmung ins Krankenhaus muss, dann ist alles perdu.
Das jetzt angestrebte Linksbündnis ist auch keine zündende Idee oder eine Vision, die Menschen in Hessen elektrisieren würde oder gar für eine kollektive Aufbruchstimmung im Lande sorgte; denn gewollt hat es ja niemand. Dass man nun gerade bei der SPD glaubt, durch den angekündigten Politikwechsel nach dem Regierungswechsel eine solche Aufbruchstimmung provozieren und den Wortbruch damit vergessen machen zu können, ist angesichts der leeren Landeskasse und den zu erwartenden drastischen Auswirkungen der globalen Finanzkrise auf die (Steuer-)Einnahmen des Landes naiv und nur eine Illusion. Zumal der Streit im "Bündnis" bereits eskaliert: Die Linke will neue Kredite zur Finanzierung sozial- und umweltpolitischer Projekte aufnehmen; die Grünen sparen, um noch in dieser Legislaturperiode einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen zu können. Nichts passt hier zusammen. Und auch beim Flughafenausbau und bei Infrastrukturvorhaben in Nordhessen fehlt jedes Anzeichen, dass die politischen Differenzen überbrückbar wären.
Fazit also: "Bleiwe losse", wie der Hesse sagt. Der beste Zeitpunkt fürs Bleibenlassen allerdings wurde bereits verpasst. Wechselnde Mehrheiten im Landtag nach der Wahl wären das richtige Rezept gewesen. Grüne und Linke hätten Ypsilanti diesen Kurs aus programmatischen Erwägungen heraus sicher (meistens) honoriert - und Koch vielleicht schon längst zermürbt das Handtuch geworfen. Einen "Fall Metzger" hätte es nie gegeben. Die verheerende Wortbruchdebatte wäre der SPD nicht nur in Hessen erspart geblieben, und Ypsilanti nicht in ihrer Glaubwürdigkeit beschädigt worden - für nichts und wieder nicht. Das wären jetzt auch für die SPD spannende Neuwahlen geworden ganz ohne Ausschlussansage an die Adresse der Linken. Aber so ist alles futsch. Dumm gelaufen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann