Debatte Palliativmedizin: Selbstbestimmt sterben
Es ist ein Fehler, den Streit über Autonomie auf den Todeszeitpunkt zu reduzieren. Das hilft nur der Gesundheitsindustrie.
Kunsttherapeutin mit Patientin in einem Hospiz. Bild: dpa
Bist du jetzt dafür oder dagegen? Die sogenannte Sterbehilfedebatte gleitet leider nicht selten ins Ideologische ab. Es wird erstaunlich wenig darüber nachgedacht, was Selbstbestimmung am Lebensende in der heutigen pluralistischen Gesellschaft bedeuten kann.
Die Erfahrungen in der Palliativbegleitung zeigen, dass es zu kurz gegriffen und zudem realitätsfremd ist, wenn man die Autonomiedebatte auf die Selbstbestimmung des Todeszeitpunktes reduziert. In der Praxis ist dies nur für eine sehr kleine Anzahl von Menschen das ausschlaggebende Kriterium.
Viel wichtiger ist für die meisten Menschen, ob ihr Leben in der Rückschau einen Sinn ergibt (ich habe noch nie einen Patienten getroffen, der sich gewünscht hätte, mehr gearbeitet zu haben), ob qualvolle Symptome vermieden werden können und wie es den Angehörigen nach dem eigenen Tod gehen wird.
Warum fokussiert sich die Debatte dennoch so stark auf das Thema „Sterbehilfe“? Weil sehr viele Menschen Angst davor haben, am Lebensende in eine Situation zu geraten, in der sie einen „Notausgang“ bräuchten und ihn nicht bekommen. Krankheit und Sterben werden oft als zunehmender Kontrollverlust erlebt. Gerade hier wäre eine offene und vertrauensvolle Kommunikation mit dem behandelnden Arzt von größter Bedeutung. Nur herrscht leider in Deutschland eine ausgeprägte Rechtsunsicherheit darüber, was am Lebensende erlaubt und was verboten ist.
Ein Patient, der befürchten muss, bei der Äußerung eines Suizidwunsches „abgewimmelt“ oder gar in die Psychiatrie eingewiesen zu werden, wird dies eher nicht mit seinem Arzt besprechen. Der Arzt hat dann keine Möglichkeit, unbegründete Ängste zu klären und über die Behandlung von Symptomen und andere Hilfsangebote zu beraten.
Der kürzlich vorgestellte Gesetzesvorschlag zur Regelung des ärztlich assistierten Suizids hat das Ziel, diese Ängste abzubauen und den Dialog am Lebensende zu stärken. Damit können nachweislich Suizide verhindert werden. Der Vorschlag lehnt sich an die Regelung im US-Bundesstaat Oregon an, wo sie nur 2 von 1.000 Todesfällen betrifft – und ein Drittel der Patienten, die vom Arzt ein zum Tode führendes Mittel erhalten haben, dieses nie einnimmt. Die Tötung auf Verlangen, deren Fallzahlen in den Niederlanden und Belgien zuletzt deutlich gestiegen sind (und die nachweislich auch bei Menschen angewendet wird, die dieses Verlangen nicht mehr äußern können), soll weiter strafbar bleiben.
Eine Entweder-oder-Haltung ist im Hinblick auf Palliativmedizin und Suizidhilfe nicht zu rechtfertigen. Es ist wissenschaftlich längst belegt, dass es auch bei bester Palliativversorgung Menschen gibt, die mit Berechtigung sagen: „Das, was mir noch bevorsteht, möchte ich nicht erleben.“
Über eines sollten wir uns allerdings nicht täuschen: Was unsere Selbstbestimmung am Lebensende wirklich einschränkt, ist nicht das Fehlen einer Regelung zur Suizidhilfe, sondern die unzureichende pflegerische und palliative Versorgung sowie die allgegenwärtige, ökonomisch motivierte Übertherapie.
Die Übertherapie
Etwa ein Drittel aller Gesundheitskosten fällt in den letzten ein bis zwei Lebensjahren an. Es geht hier um dreistellige Milliardenbeträge. Die verzweifelte Hoffnung Schwerstkranker auf Heilung oder wenigstens Aufschub wird von der Gesundheitsindustrie bewusst instrumentalisiert, um höhere Renditen zu erzielen. Dem spielt wiederum die Angst der Ärzte in die Hände, einem Patienten „nichts mehr anbieten zu können“.
Ich habe es erlebt, wie ein junger Patient die Krebsärzte geradezu anflehte, ihn mit einem neuen Medikament weiter zu behandeln, obwohl dieses – bei voraussichtlich geringem Nutzen – schwerste Nebenwirkungen auslöste. Die zur Beschwerdelinderung notwendige Cortisontherapie durfte er nicht bekommen, weil dies die Wirkung des Medikaments hätte beeinträchtigen können. Der Patient starb qualvoll drei Tage später.
Dass es auch anders geht, belegt eine Studie aus Harvard: Eine frühzeitige Palliativbetreuung führte bei Krebspatienten zu einer besseren Lebensqualität, weniger Chemotherapien und gleichzeitig einem signifikant längeren Überleben – nebenwirkungsfrei und kostensparend. Die Palliativmedizin erreicht dies, indem sie leidvolle Symptome effektiv behandelt und die psychosozialen wie spirituellen Bedürfnisse und Prioritäten der Patienten und ihres sozialen Umfelds in den Mittelpunkt stellt.
Aber trotz vieler Lippenbekenntnisse wird sie, wenn es um Ressourcenzuteilung geht, immer noch stiefmütterlich behandelt. Warum wohl? Vielleicht deshalb, weil die Palliativmedizin der modernen, technologisch und pharmakologisch orientierten Medizin die unbequeme Frage stellt: Ist wirklich immer alles sinnvoll, was machbar ist?
Abwertung der Palliativmedizin
Derzeit ist zudem zu beobachten, wie die Palliativmedizin vom Gesundheitssystem geradezu „anästhesiert“ wird, indem man sie – mit tatkräftiger Hilfe der Pharmaindustrie – zu einer Unterform der Schmerztherapie umzudefinieren versucht. Dabei stellt die Schmerzbehandlung in Wirklichkeit nur etwa ein Sechstel der ganzheitlichen, multiprofessionellen Arbeit in der Palliativbetreuung dar. Aber die Pharmaindustrie macht ihre Umsätze nun einmal nicht mit spiritueller Begleitung.
Was wir dringend brauchen, ist ein Gesundheitssystem, das in der Lage ist, die hochgradig unterschiedlichen Bedürfnisse, Ängste und Sorgen kranker Menschen und ihrer Familien wahr- und ernst zu nehmen. Dies geschieht nicht durch die standardmäßige Ingangsetzung aller medizinischen Behandlungen, die vom System bezahlt werden, sondern beginnt ganz wesentlich mit dem Zuhören.
Wenn wir diesen Weg nicht gehen, riskieren wir die Entstehung einer Zweiklassenmedizin, in der es nur Unter- oder Überversorgte geben wird. Es ist daher meine feste Überzeugung: Die Medizin der Zukunft wird eine hörende sein, oder sie wird nicht sein. Wenn die Sterbehilfedebatte einen Beitrag in diese Richtung liefern könnte, wäre sie hochwillkommen.
Debatte Palliativmedizin: Selbstbestimmt sterben
Es ist ein Fehler, den Streit über Autonomie auf den Todeszeitpunkt zu reduzieren. Das hilft nur der Gesundheitsindustrie.
Kunsttherapeutin mit Patientin in einem Hospiz. Bild: dpa
Bist du jetzt dafür oder dagegen? Die sogenannte Sterbehilfedebatte gleitet leider nicht selten ins Ideologische ab. Es wird erstaunlich wenig darüber nachgedacht, was Selbstbestimmung am Lebensende in der heutigen pluralistischen Gesellschaft bedeuten kann.
Die Erfahrungen in der Palliativbegleitung zeigen, dass es zu kurz gegriffen und zudem realitätsfremd ist, wenn man die Autonomiedebatte auf die Selbstbestimmung des Todeszeitpunktes reduziert. In der Praxis ist dies nur für eine sehr kleine Anzahl von Menschen das ausschlaggebende Kriterium.
Viel wichtiger ist für die meisten Menschen, ob ihr Leben in der Rückschau einen Sinn ergibt (ich habe noch nie einen Patienten getroffen, der sich gewünscht hätte, mehr gearbeitet zu haben), ob qualvolle Symptome vermieden werden können und wie es den Angehörigen nach dem eigenen Tod gehen wird.
Warum fokussiert sich die Debatte dennoch so stark auf das Thema „Sterbehilfe“? Weil sehr viele Menschen Angst davor haben, am Lebensende in eine Situation zu geraten, in der sie einen „Notausgang“ bräuchten und ihn nicht bekommen. Krankheit und Sterben werden oft als zunehmender Kontrollverlust erlebt. Gerade hier wäre eine offene und vertrauensvolle Kommunikation mit dem behandelnden Arzt von größter Bedeutung. Nur herrscht leider in Deutschland eine ausgeprägte Rechtsunsicherheit darüber, was am Lebensende erlaubt und was verboten ist.
Ein Patient, der befürchten muss, bei der Äußerung eines Suizidwunsches „abgewimmelt“ oder gar in die Psychiatrie eingewiesen zu werden, wird dies eher nicht mit seinem Arzt besprechen. Der Arzt hat dann keine Möglichkeit, unbegründete Ängste zu klären und über die Behandlung von Symptomen und andere Hilfsangebote zu beraten.
Der kürzlich vorgestellte Gesetzesvorschlag zur Regelung des ärztlich assistierten Suizids hat das Ziel, diese Ängste abzubauen und den Dialog am Lebensende zu stärken. Damit können nachweislich Suizide verhindert werden. Der Vorschlag lehnt sich an die Regelung im US-Bundesstaat Oregon an, wo sie nur 2 von 1.000 Todesfällen betrifft – und ein Drittel der Patienten, die vom Arzt ein zum Tode führendes Mittel erhalten haben, dieses nie einnimmt. Die Tötung auf Verlangen, deren Fallzahlen in den Niederlanden und Belgien zuletzt deutlich gestiegen sind (und die nachweislich auch bei Menschen angewendet wird, die dieses Verlangen nicht mehr äußern können), soll weiter strafbar bleiben.
Eine Entweder-oder-Haltung ist im Hinblick auf Palliativmedizin und Suizidhilfe nicht zu rechtfertigen. Es ist wissenschaftlich längst belegt, dass es auch bei bester Palliativversorgung Menschen gibt, die mit Berechtigung sagen: „Das, was mir noch bevorsteht, möchte ich nicht erleben.“
Über eines sollten wir uns allerdings nicht täuschen: Was unsere Selbstbestimmung am Lebensende wirklich einschränkt, ist nicht das Fehlen einer Regelung zur Suizidhilfe, sondern die unzureichende pflegerische und palliative Versorgung sowie die allgegenwärtige, ökonomisch motivierte Übertherapie.
Die Übertherapie
Etwa ein Drittel aller Gesundheitskosten fällt in den letzten ein bis zwei Lebensjahren an. Es geht hier um dreistellige Milliardenbeträge. Die verzweifelte Hoffnung Schwerstkranker auf Heilung oder wenigstens Aufschub wird von der Gesundheitsindustrie bewusst instrumentalisiert, um höhere Renditen zu erzielen. Dem spielt wiederum die Angst der Ärzte in die Hände, einem Patienten „nichts mehr anbieten zu können“.
Ich habe es erlebt, wie ein junger Patient die Krebsärzte geradezu anflehte, ihn mit einem neuen Medikament weiter zu behandeln, obwohl dieses – bei voraussichtlich geringem Nutzen – schwerste Nebenwirkungen auslöste. Die zur Beschwerdelinderung notwendige Cortisontherapie durfte er nicht bekommen, weil dies die Wirkung des Medikaments hätte beeinträchtigen können. Der Patient starb qualvoll drei Tage später.
Dass es auch anders geht, belegt eine Studie aus Harvard: Eine frühzeitige Palliativbetreuung führte bei Krebspatienten zu einer besseren Lebensqualität, weniger Chemotherapien und gleichzeitig einem signifikant längeren Überleben – nebenwirkungsfrei und kostensparend. Die Palliativmedizin erreicht dies, indem sie leidvolle Symptome effektiv behandelt und die psychosozialen wie spirituellen Bedürfnisse und Prioritäten der Patienten und ihres sozialen Umfelds in den Mittelpunkt stellt.
Aber trotz vieler Lippenbekenntnisse wird sie, wenn es um Ressourcenzuteilung geht, immer noch stiefmütterlich behandelt. Warum wohl? Vielleicht deshalb, weil die Palliativmedizin der modernen, technologisch und pharmakologisch orientierten Medizin die unbequeme Frage stellt: Ist wirklich immer alles sinnvoll, was machbar ist?
Abwertung der Palliativmedizin
Derzeit ist zudem zu beobachten, wie die Palliativmedizin vom Gesundheitssystem geradezu „anästhesiert“ wird, indem man sie – mit tatkräftiger Hilfe der Pharmaindustrie – zu einer Unterform der Schmerztherapie umzudefinieren versucht. Dabei stellt die Schmerzbehandlung in Wirklichkeit nur etwa ein Sechstel der ganzheitlichen, multiprofessionellen Arbeit in der Palliativbetreuung dar. Aber die Pharmaindustrie macht ihre Umsätze nun einmal nicht mit spiritueller Begleitung.
Was wir dringend brauchen, ist ein Gesundheitssystem, das in der Lage ist, die hochgradig unterschiedlichen Bedürfnisse, Ängste und Sorgen kranker Menschen und ihrer Familien wahr- und ernst zu nehmen. Dies geschieht nicht durch die standardmäßige Ingangsetzung aller medizinischen Behandlungen, die vom System bezahlt werden, sondern beginnt ganz wesentlich mit dem Zuhören.
Wenn wir diesen Weg nicht gehen, riskieren wir die Entstehung einer Zweiklassenmedizin, in der es nur Unter- oder Überversorgte geben wird. Es ist daher meine feste Überzeugung: Die Medizin der Zukunft wird eine hörende sein, oder sie wird nicht sein. Wenn die Sterbehilfedebatte einen Beitrag in diese Richtung liefern könnte, wäre sie hochwillkommen.
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Kommentar von
Gian Domenico Borasio
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