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Debatte PalliativmedizinSelbstbestimmt sterben

Kommentar von Gian Domenico Borasio

Es ist ein Fehler, den Streit über Autonomie auf den Todeszeitpunkt zu reduzieren. Das hilft nur der Gesundheitsindustrie.

Kunsttherapeutin mit Patientin in einem Hospiz. Bild: dpa

B ist du jetzt dafür oder dagegen? Die sogenannte Sterbehilfedebatte gleitet leider nicht selten ins Ideologische ab. Es wird erstaunlich wenig darüber nachgedacht, was Selbstbestimmung am Lebensende in der heutigen pluralistischen Gesellschaft bedeuten kann.

Die Erfahrungen in der Palliativbegleitung zeigen, dass es zu kurz gegriffen und zudem realitätsfremd ist, wenn man die Autonomiedebatte auf die Selbstbestimmung des Todeszeitpunktes reduziert. In der Praxis ist dies nur für eine sehr kleine Anzahl von Menschen das ausschlaggebende Kriterium.

Viel wichtiger ist für die meisten Menschen, ob ihr Leben in der Rückschau einen Sinn ergibt (ich habe noch nie einen Patienten getroffen, der sich gewünscht hätte, mehr gearbeitet zu haben), ob qualvolle Symptome vermieden werden können und wie es den Angehörigen nach dem eigenen Tod gehen wird.

Gian Domenico Borasio

lehrt Palliativmedizin an der Universität Lausanne und leitet den Dienst Palliativpflege am Universitätsspital Lausanne. Soeben erschien von ihm: „Selbstbestimmt sterben. Was es bedeutet – was uns daran hindert – wie wir es erreichen können“. Verlag C. H. Beck, 2014.

Warum fokussiert sich die Debatte dennoch so stark auf das Thema „Sterbehilfe“? Weil sehr viele Menschen Angst davor haben, am Lebensende in eine Situation zu geraten, in der sie einen „Notausgang“ bräuchten und ihn nicht bekommen. Krankheit und Sterben werden oft als zunehmender Kontrollverlust erlebt. Gerade hier wäre eine offene und vertrauensvolle Kommunikation mit dem behandelnden Arzt von größter Bedeutung. Nur herrscht leider in Deutschland eine ausgeprägte Rechtsunsicherheit darüber, was am Lebensende erlaubt und was verboten ist.

Ein Patient, der befürchten muss, bei der Äußerung eines Suizidwunsches „abgewimmelt“ oder gar in die Psychiatrie eingewiesen zu werden, wird dies eher nicht mit seinem Arzt besprechen. Der Arzt hat dann keine Möglichkeit, unbegründete Ängste zu klären und über die Behandlung von Symptomen und andere Hilfsangebote zu beraten.

Der kürzlich vorgestellte Gesetzesvorschlag zur Regelung des ärztlich assistierten Suizids hat das Ziel, diese Ängste abzubauen und den Dialog am Lebensende zu stärken. Damit können nachweislich Suizide verhindert werden. Der Vorschlag lehnt sich an die Regelung im US-Bundesstaat Oregon an, wo sie nur 2 von 1.000 Todesfällen betrifft – und ein Drittel der Patienten, die vom Arzt ein zum Tode führendes Mittel erhalten haben, dieses nie einnimmt. Die Tötung auf Verlangen, deren Fallzahlen in den Niederlanden und Belgien zuletzt deutlich gestiegen sind (und die nachweislich auch bei Menschen angewendet wird, die dieses Verlangen nicht mehr äußern können), soll weiter strafbar bleiben.

Eine Entweder-oder-Haltung ist im Hinblick auf Palliativmedizin und Suizidhilfe nicht zu rechtfertigen. Es ist wissenschaftlich längst belegt, dass es auch bei bester Palliativversorgung Menschen gibt, die mit Berechtigung sagen: „Das, was mir noch bevorsteht, möchte ich nicht erleben.“

Über eines sollten wir uns allerdings nicht täuschen: Was unsere Selbstbestimmung am Lebensende wirklich einschränkt, ist nicht das Fehlen einer Regelung zur Suizidhilfe, sondern die unzureichende pflegerische und palliative Versorgung sowie die allgegenwärtige, ökonomisch motivierte Übertherapie.

Die Übertherapie

Etwa ein Drittel aller Gesundheitskosten fällt in den letzten ein bis zwei Lebensjahren an. Es geht hier um dreistellige Milliardenbeträge. Die verzweifelte Hoffnung Schwerstkranker auf Heilung oder wenigstens Aufschub wird von der Gesundheitsindustrie bewusst instrumentalisiert, um höhere Renditen zu erzielen. Dem spielt wiederum die Angst der Ärzte in die Hände, einem Patienten „nichts mehr anbieten zu können“.

Ich habe es erlebt, wie ein junger Patient die Krebsärzte geradezu anflehte, ihn mit einem neuen Medikament weiter zu behandeln, obwohl dieses – bei voraussichtlich geringem Nutzen – schwerste Nebenwirkungen auslöste. Die zur Beschwerdelinderung notwendige Cortisontherapie durfte er nicht bekommen, weil dies die Wirkung des Medikaments hätte beeinträchtigen können. Der Patient starb qualvoll drei Tage später.

Dass es auch anders geht, belegt eine Studie aus Harvard: Eine frühzeitige Palliativbetreuung führte bei Krebspatienten zu einer besseren Lebensqualität, weniger Chemotherapien und gleichzeitig einem signifikant längeren Überleben – nebenwirkungsfrei und kostensparend. Die Palliativmedizin erreicht dies, indem sie leidvolle Symptome effektiv behandelt und die psychosozialen wie spirituellen Bedürfnisse und Prioritäten der Patienten und ihres sozialen Umfelds in den Mittelpunkt stellt.

Aber trotz vieler Lippenbekenntnisse wird sie, wenn es um Ressourcenzuteilung geht, immer noch stiefmütterlich behandelt. Warum wohl? Vielleicht deshalb, weil die Palliativmedizin der modernen, technologisch und pharmakologisch orientierten Medizin die unbequeme Frage stellt: Ist wirklich immer alles sinnvoll, was machbar ist?

Abwertung der Palliativmedizin

Derzeit ist zudem zu beobachten, wie die Palliativmedizin vom Gesundheitssystem geradezu „anästhesiert“ wird, indem man sie – mit tatkräftiger Hilfe der Pharmaindustrie – zu einer Unterform der Schmerztherapie umzudefinieren versucht. Dabei stellt die Schmerzbehandlung in Wirklichkeit nur etwa ein Sechstel der ganzheitlichen, multiprofessionellen Arbeit in der Palliativbetreuung dar. Aber die Pharmaindustrie macht ihre Umsätze nun einmal nicht mit spiritueller Begleitung.

Was wir dringend brauchen, ist ein Gesundheitssystem, das in der Lage ist, die hochgradig unterschiedlichen Bedürfnisse, Ängste und Sorgen kranker Menschen und ihrer Familien wahr- und ernst zu nehmen. Dies geschieht nicht durch die standardmäßige Ingangsetzung aller medizinischen Behandlungen, die vom System bezahlt werden, sondern beginnt ganz wesentlich mit dem Zuhören.

Wenn wir diesen Weg nicht gehen, riskieren wir die Entstehung einer Zweiklassenmedizin, in der es nur Unter- oder Überversorgte geben wird. Es ist daher meine feste Überzeugung: Die Medizin der Zukunft wird eine hörende sein, oder sie wird nicht sein. Wenn die Sterbehilfedebatte einen Beitrag in diese Richtung liefern könnte, wäre sie hochwillkommen.

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4 Kommentare

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  • Es passiert leider oft, dass Diskussionen über Autonomie grundsätzlich verdreht oder gar nicht geführt werden.

    Selbstbestimmtes Leben hat scheinbar keinen großen Stellenwert. Fremdbestimmte (und oft unsinnige) Arbeit wird nicht in Frage gestellt, Rauchverbote oder Tempolimits dagegen sind furchtbare Beschneidungen der individuellen Freiheit. Sich selbst oder anderen zuzuhören wird selten als wertvoll gewürdigt.

    Es scheint mir insofern, die Debatte über die Sterbehilfe spiegelt ganz gut den Zustand unserer Gesellschaft wider.

  • "Was wir dringend brauchen, ist ein Gesundheitssystem, das in der Lage ist, die hochgradig unterschiedlichen Bedürfnisse, Ängste und Sorgen kranker Menschen und ihrer Familien wahr- und ernst zu nehmen"

    Was wir wirklich brauchen, ist eine Gesellschaft die Krankheit und Tod als selbstverständlichen Teil des Daseins begreift. Die den Wert eines Menschen nicht an dessen Vitalität und Schönheit misst und in der man nicht die Jugend als Maßstab des Seins begreift. Das Lebensende selbstbestimmt gestalten, d.h. wie (lange) möchte ich leben, wo möchte ich leben, mit wem möchte ich leben? Das sind Fragen die jeder einzlene evtl. schon in jungen Jahren für sich beantworten sollte.

  • "Das hilft nur der Gesundheitsindustrie."

    Meinten Sie die Krankheitswirtschaft ?

    Worauf Sie Gift nehmen können : die Pharmafia wird kein Mittel auslassen um zu verhindern , dass ihr in die Goldgrube der letzten zwei Lebensjahre von Normalo politisch reingepfuscht wird . Pharmafia gibt schon immer mehr als doppelt so viele Milliarden für Werbung und Bestechung aus als für Forschung .

  • Ich denke, da hängt auch viel an der Ausbildung unserer Ärzte und Medizinstudenten. Der Fakt, dass der Mensch eine Mortalität von 100% hat, kommt im Weltbild vieler Ärzte schlicht nicht vor. Jeder von uns wird irgendwann sterben, der eine früher, die andere später. Aber auch in der Gesellschaft ist der Tod ein Thema, über das zu reden nicht einfach ist. Vielleicht können wiederholte Debatten zu Sterbehilfe und verwandten Themen ja dazu beitragen, dass wir lernen, über das Ende unseres Lebens zu reden und wie es aussehen sollte.

     

    Erst wenn wir darüber reden, können wir sinnvolle Lösungen finden, die in dieser schwierigen Frage jedem genug Handlungsspielraum lassen.