Debatte Neuer Feminismus: Die Lust am Schleim
Der Erfolg von Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" zeigt: Feminismus ist wieder in. Es geht um die alten Fragen. Nur hat er ein neues Gesicht bekommen.
Eine Frau, die furzt, kann ich nicht küssen." Mit diesen Worten kommentiert, in gewohnt unübertroffener Schlichtheit, der Bild-Zeitungs-Kolumnist Franz Josef Wagner den sagenhaften Erfolg von "Feuchtgebiete", dem Roman von Charlotte Roche. Er bringt damit jene Haltung auf den Punkt, die von Frauen das Verstecken der eigenen Kreatürlichkeit verlangt - und damit Schweiß und fleckige Unterhosen für Männer reserviert.
Mit seiner Abscheu vor Roches Roman macht Wagner deutlich, dass die Forderung nach weiblicher Hygiene ein Mittel patriarchal gesinnter Männer ist, um Frau besser kontrollieren zu können. Nolens volens widerspricht Wagner damit seinen Kollegen aus dem angesehenen Feuilleton von Süddeutscher Zeitung und FAZ. Die haben das Thema Selbstbefreiung durch Bruch mit den allgemein gültigen Benimmregeln nämlich als nebensächlich abgetan: Mädchenkram eben.
Dieser Mädchenkram hat sich nun 430.000-mal verkauft. Nach nur sechs Wochen. "Feuchtgebiete" ist damit mehr als nur ein Bestseller von irgendeiner Fernsehmoderatorin. "Feuchtgebiete" ist ein Phänomen. Offenkundig trifft Roches humorvolle Erkundung erogener Zonen bei sehr vielen, vorwiegend weiblichen Leserinnen auf Interesse. Ein Interesse, das sich - darin sind sich dann alle Rezensenten einig - nicht allein mit "Sex sells" erklären lässt.
Natürlich sind Jugend, Schönheit und Prominentenstatus der Autorin sowie die Geste des Tabubruchs gute Voraussetzungen für einen Bestseller-Erfolg. Im Falle von Roche ist aber wohl das rotzige Selbstbewusstsein entscheidend, mit der ihre Protagonistin die Lust am eigenen Schleim, Geruch und Körper obsessiv feiert. Rabiat attackiert der Text gerade jene Einstellungen, die Franz Josef Wagner als Volkes Stimme verteidigt.
Roche aber bricht nicht nur souverän das Tabu, das vom Frauenkörper bis heute eine ganz besondere Hygiene und Sittsamkeit verlangt - folglich schmutzige Mädchen als asozial ausgrenzt. Das Besondere und auch besonders Zeitgemäße ist vielmehr, dass Roches Erzählweise nicht bei der Negation, beim Angriff auf die Prüderie stehenbleibt. Stattdessen erfindet sie neue, sanfte Worte für jene Körperzone, die bis heute gemeinhin als weiblicher Schambereich bezeichnet wird. Für ihre Heldin sind die äußeren Schamlippen "Vanillekipferl", die inneren firmieren als "Hahnenkämme", die Klitoris hat sie auf den glitzernden Märchennamen "Perlenrüssel" getauft. Der Text ist ein Aufruf, mit sich selbst zu spielen und für seine Lust neue Praktiken und Namen zu finden. Helens größter Kontrahent ist daher ihre Mutter: die ist ein einziger Hygienezwang.
"Feuchtgebiete" ist nicht mehr als ein raubeiniges Manifest gegen die Einhegung des weiblichen Körpers durch Sauberkeits- und Schönheitszwänge - und mehr will es auch nicht sein. Doch es ist ein Symptom. An den unterschiedlichsten Ecken flammen derzeit Diskussionen um die - erotische oder ökonomische - Unabhängigkeit von Frauen auf: Feminismus ist wieder Thema. Pünktlich zum 40. Jubiläum von 1968 bekommt Alice Schwarzer Gesellschaft. Und zwar von Akteurinnen und Akteuren, die nicht ins Klischee von der Feministin passen. Sondern, siehe Charlotte Roche oder auch Familienministerin Ursula von der Leyen - eher zur Marke everyones darling gehören.
Selbstredend darf der Regisseur Quentin Tarantino in der Reihe der unorthodoxen, aber aktuell einflussreichen feministischen Akteure nicht fehlen. Filme wie "Kill Bill" oder seine jüngste Hommage an Stuntfrauen in "Death Proof" feiern gleichfalls Heldinnen, die männlich okkupierte Zonen entern und aneignen. Ähnlich selbstbezogen wie Helen beleben sie ein feministisches Imaginäres. Bei Tarantino dürfen Frauen schön und gewalttätig sein, bei Charlotte Roche weisen sie den zeitgemäßen Schönheitswahn zurück und öffnen die Tür für das Spiel mit Schamhaar, Schleim und Perlenrüssel. Auf der Strecke bleibt jeweils die Sorge um andere, um Schwächere. Der aktuell massentaugliche Feminismus spiegelt den Egoismus der Mittelschicht wider.
Trotzdem erlaubt diese Haltung, die Diskussion auf eine Weise zu führen, die wieder mehr Mädchen und Frauen anspricht. Ein Beispiel dafür, dass frauenpolitische Themen an Bedeutung gewinnen, ist der Bereich Frauen und Arbeit. Ende letzten Jahres hat eine Studie der OECD darauf aufmerksam gemacht, dass Frauen in Europa trotz gleicher Qualifikation deutlich weniger verdienen als erwerbstätige Männer. Deutschland gehört dabei zu den Ländern, die ihre weiblichen Erwerbstätigen am schlechtesten bezahlen: Der Verdienst von Frauen unterschreitet den männlichen im Schnitt um 22 Prozent. Die Diskussion um fehlende Kinderbetreuung hat sich damit um das Thema der ungerechten Bezahlung erweitert.
Selbst BBC berichtete unlängst über diese deutsche Ungerechtigkeit: Man hatte sie so in Deutschland nicht erwartet. Den Deutschen hingegen ist diese Schieflage, wie eine vom Frauenministerium in Auftrag gegebene Studie belegt, durchaus bekannt. Zwei Drittel der befragten Männer und Frauen gehen davon aus, dass Männer besser bezahlt werden als Frauen, obwohl 92 Prozent eine gleiche Bezahlung für gerecht halten. Die jungen kinderlosen und akademisch gebildeten Frauen, heißt es dort, "bewerten ihre Chancen in der Berufswelt optimistisch". Ab 35 Jahren nimmt dieser Optimismus dann ab: insbesondere, wenn inzwischen Kinder da sind. Genaue Zahlen allerdings wissen die wenigsten. Diese werden nun nachgereicht - und sorgen für Erstaunen. So verdient ein Koch durchschnittlich 3.403 brutto im Monat, eine Köchin hingegen nur 2.062 . Die Ungerechtigkeit findet sich in allen Branchen.
So unterschiedlich das Phänomen Charlotte Roche und die von offizieller Seite angestoßenen Debatten um verbesserte Kinderbetreuung und gleiche Gehälter für gleiche Leistung sind - dass es eine Verbindung gibt, liegt auf der Hand. Es geht um klassische feministische Themen: das Entdecken der eigenen Geschlechtlichkeit als nicht eklig; die Verbindung von Mutterschaft und Erwerbstätigkeit; die Gleichbehandlung von Frauen in der Arbeitswelt.
Nun sollte sich aber auch die Mittelschicht nicht zu früh freuen. Denn die Gleichzeitigkeit von dem - diskursiven - Aufbegehren gegen ungleiche Bezahlung und einem extrem lässigen Umgang mit weiblicher Sexualität zeigt ja nicht nur, dass es wieder vorangeht. Es zeigt auch, dass die gewonnenen Kämpfe in Sachen Sex mitnichten mit einer Souveränität auf der ökonomischen Ebene korrespondieren. Zu denken, dass die relative erotische Befreiung eine ökonomische nach sich ziehen würde, hat sich als ein Missverständnis entpuppt. Bei aller errungenen Coolness ist es für die meisten Arbeitgeber überhaupt kein Problem, Frauen durch Geringerbezahlung bei gleicher Leistung wieder in die zweite Reihe zu verweisen. Hiergegen anzugehen ist zweifellos die aktuell wichtigste Aufgabe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“