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Debatte Nachlese der BuchmesseKniefall der Politik vor der Literatur

Kommentar von Nora Bossong

Damit die Buchmesse nicht herzlos wirkt, werden Inseln geschaffen. Auf ihnen wird literarisch über Politik und politisch über Literatur gesprochen.

Greifen ineinander wie Rädchen im Getriebe: Politik und Literatur Foto: photocase/margie

A ls Autorin hat man auf einer Buchmesse ungefähr so viel zu suchen wie ein Hochseefischer auf dem Fischmarkt – genau genommen nichts. Es geht ums Geschäft mit der Literatur, nicht um ihr Entstehen und Wirken. Um etwas gegen das herzlos Ökonomische zu setzen, hat die Frankfurter Buchmesse Inseln geschaffen, auf denen höchst prominent literarisch über Politik und politisch über Literatur gesprochen wird und wo sich zeigt, wie diese beiden, nie ganz indifferent zueinander stehenden Wirkungsfelder ineinandergreifen.

Die sonntägliche Friedenspreisvergabe ist dafür wohl das prägnanteste Beispiel und zugleich ein Kniefall der politischen haute bourgeoisie vor der sie hinterfragenden und auch mahnenden Literatur. Margaret Atwood, die die Auszeichnung in diesem Jahr entgegennahm, mag durch ihr Werk eine würdige Preisträgerin sein, ihre Rede aber nahm sich etwas enttäuschend aus. Sie sprach von ersten Romanversuchen mit Ameisenhelden und von bösen Wölfen, als würde einem zu Deutschland nicht viel mehr einfallen als Grimms Märchen.

Natürlich sagte Atwood nichts Falsches: Ja, die dystopischen Gedanken ihres Romans „Der Report der Magd“ haben sich erschreckend aktualisiert, und ja, die Wahl von Donald Trump ist keine Sternstunde der Demokratie und ja, auch das stimmt, die Märchen der Grimms sind brutal. Alles richtig und nichts ist verkehrt daran, auch mal über Ameisen zu sprechen. Ganz sicher ist es kein Skandal, es ist vermutlich ferner davon, als es die meisten Paulskirchenreden bisher waren.

Und doch fehlte eine intellektuelle Tiefenanalyse, die in dem, was schon oft gesagt und geschrieben worden ist, einige Nuancen mehr sichtbar macht. Auch die literarischen Verweise hätten durchaus über Märchenschrecken hinausgehen dürfen und sich vielleicht, wie es Emanuel Macron zur Eröffnung der Buchmesse tat, mit Nerval und Goethe, mit der Frage nach Übersetzung, Verständnismöglichkeiten und der Freundschaft zweier Nationen auseinandersetzen können, die immer auch eine sprachlich verfasste ist.

Macrons Euphorie trotz aller Ambivalenzen im historisch sowohl schwer belasteten wie auch schwer beglückten Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland hätte ganz gut in die Paulskirche gepasst. Natürlich weiß Macron seine Zuhörer mit fein austariertem Pathos für sich einzunehmen, vielleicht sogar zu betören und einzuwickeln.

Eribon über Macron

„Macron beim Schwadronieren über Europa und dessen Kultur zuzusehen und zuzuhören, wo er – und Merkel – doch im selben Moment pausenlos die Bedingungen für kulturelles Schaffen in Europa zerstören“, das hatte der französische Intellektuelle Didier Eribon in einem Beitrag der Süddeutschen Zeitung konsequent abgelehnt und schon lange vor Macron gewarnt, der mit seinem neoliberalen Kurs eine Marine Le Pen überhaupt erst beflügeln werde. Oui, mais …

Wenn man Macron angreifen will, sollte man mithalten können mit jener Ambivalenz, die er in seiner Rede auffächert und tatsächlich zu etwas Optimistischem zu wenden versteht. Macron setzt die Kraft der Übersetzung gegen die reale Dystopie des Krieges und seines Erinnerns.

Paul Ricoeur, erzählt er am Ende seiner Rede, habe eine „drôle d’histoire avec l’Allemagne“, eine lustige Geschichte mit Deutschland. Ricoeurs Vater sei im Ersten Weltkrieg gefallen, Paul selbst während des Zweiten Weltkriegs in Kriegsgefangenschaft geraten. Doch statt zu verbittern, habe er ein Buch von Edmund Husserl übersetzt, das er bei sich getragen habe.

Diese Geschichte eines Halts im Haltlosen, so knapp Macron sie auch erzählt, berichtet en passant davon, wie Literatur und Philosophie eine Sprache zu sprechen vermögen, die trotz oder auch parallel zu Vernichtung und Krieg ihre Wirklichkeit bewahren, wie sich diese zwei Dimen­sio­nen nicht ganz zur Deckung bringen lassen, die eine nicht von der anderen bis zur Gänze zerstört wird, wie trotz aufoktroyierter Feindschaft ein Versuch nach Verständnis lebendig bleibt.

Macrons Rede, sosehr sie auch die verbindende Kunst der Übersetzung lobt, ist leider nur auf Französisch zu finden, was kein Problem ist für jene Generation, die weiter zu fördern Macron verspricht und die durch Erasmus und Polylingualität so ganz europäisch geworden ist. Aber Europa ist nicht nur Paris und Berlin, findet nicht nur in den Spitzenunis statt, nicht nur bei jenen, die Macron „ihren“ Präsidenten nennen können, weil sie seine Rede überhaupt erst einmal verstehen. Hier sei Eribon doch tendenziell recht gegeben.

Gruppe 47

Es gab eine dritte Rede, die ich in der Buchmessenwoche hörte, nicht in Frankfurt, sondern im fränkischen Waischenfeld, beim Jubiläum der Gruppe 47. Es wäre unlauter, über den ersten, inoffiziellen Abend zu berichten, aber so viel sei erwähnt: In der Begrüßung des Bürgermeisters ging es weniger um Nerval und Goethe, auch nicht um die Gebrüder Grimm oder Günter Grass.

Er erzählte von der Beschäftigungssituation, vom Tourismus und von den Grundstückspreisen in der Region, und natürlich kann man sich fragen, was das mit der Gruppe 47 zu tun hat. Doch umgekehrt hat die Gruppe 47 oder weiter gefasst jede Gruppe von Schreibenden, die sich als Ziel setzt, die Gesellschaft literarisch und politisch zu beleuchten, genau damit etwas zu tun, mit dem Beschäftigungsverhältnis und den Grundstückspreisen jenseits von Messehallen.

Nora Bossong

Jahrgang 1982, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Zu ihren wichtigsten Romanen zählen „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (2012) und „36,9°“ (2015). Im Februar ­2017 erschien bei Hanser ihr Reportageband „Rotlicht“.

Es gibt Menschen, die nach Paris ziehen wegen der hervorragenden Universitätsseminare zu Husserl und Ricoeur, und es gibt Menschen, die einen Ort in der Provinz wählen, weil der Grundstückspreis dort noch bei 50 Euro pro Quadratmeter liegt. Zwischen diesen beiden Lebensentwürfen zu dolmetschen ist eine der wichtigsten Aufgaben derzeit – nicht nur für Literaten, die über Politik und Politiker, die über Literatur sprechen.

Es braucht keinen Krieg, es genügt Bequemlichkeit, um die Übersetzung scheitern zu lassen. Dann kann man zwar weiter das Schöngeistige feiern, es wäre aber nur noch eine hübsche Ausstellungsfläche, eine kleine Insel der Glückseligen in den realen, bösen Märchen.

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