Debatte Muslimische Demokratie in der Türke: Mit Gott und Menschenrechten
Wie lassen sich Demokratie und Islam vereinbaren? Die AKP in der Türkei versucht es. Das Vorbild europäischer Christdemokraten zeigt: Es braucht eine politische Philosophie.
Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Princeton. Ein längerer Essay zu Jacques Maritain und Christdemokratie erscheint in der nächsten Ausgabe der "Zeitschrift für Ideengeschichte".
Das türkische Verfassungsgericht hat die Aufhebung des Kopftuchverbots für unzulässig erklärt; wahrscheinlich wird auch die Regierungspartei AKP im Namen des Laizismus demnächst verboten. Dabei war die AKP ein Hoffnungsträger für das Wachsen einer "muslimischen Demokratie" nach dem Vorbild der europäischen Christdemokratie: einer Partei, die Legitimität aus religiösen Quellen schöpft und doch die Regeln der Demokratie und den Charakter des modernen, gegenüber jeder Glaubensrichtung neutralen Staates anerkennt. Aber nicht erst jetzt werden kritische Stimmen laut, dass die Christdemokratie einen einzigartigen europäischen Entwicklungspfad hinter sich habe - und daher gerade nicht als Modell für andere Regionen und vor allem andere Religionen dienen könne.
Doch was ist oder war Christdemokratie eigentlich? Die verwaschenen Parteiprogramme von CDU/CSU oder der Rest-Democrazia-Cristiana in Italien geben darauf keine Antwort. Vergessen ist, dass Christdemokratie nicht zuletzt auf einer Liberalisierung katholischen politischen Denkens basierte - weswegen ein "liberalisierter Islam" notwendige, wenn auch nicht ausreichende Vorbedingung für eine muslimische Demokratie ist.
Diese Liberalisierung muss nicht von oben kommen, im Fall des Katholizismus wurde sie maßgeblich von Philosophen außerhalb der Kirche angestoßen. Ideenpolitisch bewegte sich vor allem viel in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, welche gleichzeitig eine Ära von aufeinanderfolgenden Katastrophen für katholisch orientierte Parteien war: Sowohl die protochristdemokratische "Volkspartei" in Italien als auch das deutsche Zentrum konnten den Aufstieg der Faschismen nicht verhindern. Neue politisch-theologische Wege wurden jedoch vor allem von dem französischen Philosophen Jaques Maritain beschritten. Ursprünglich war dieser ein Republikaner; später verschrieb er sich den Lehren Thomas von Aquins und stand der protofaschistischen Action Française nahe. Diese wurde 1926 vom Vatikan geächtet und Maritain beugte sich dem Urteil des Papsts.
In den dreißiger Jahren zog er sich den Zorn konservativer Katholiken zu, weil er den Krieg des spanischen Generals und Diktators Franco nicht als legitimen christlichen Kreuzzug anerkennen wollte. Auch begann er vor dem Hintergrund seiner aristotelisch-naturrechtlichen Philosophie eine neue Konzeption von Menschenrechten zu entwickeln. Im Jahr 1940 blieb er nach einer Vortragsreise in den USA und schrieb leidenschaftlich gegen das Vichy-Regime an.
Der entscheidende Durchbruch zur Christdemokratie erfolgte in seinen im Exil verfassten Schriften: Die Demokratie, so Maritain, sei zwar nicht schon immer der einzig mögliche politische Ausdruck des Christentums; im zwanzigsten Jahrhundert sei jedoch einzig Demokratie mit christlichem Glauben vereinbar.
Seine Menschenrechtskonzeption schöpfte aus dem in den dreißiger Jahren entstandenen kommunitaristischen "Personalismus" - einer eher vagen christlich kolorierten Philosophie, die sich von den beiden Extremen liberaler Individualismus und Kommunismus absetzen wollte und auf dem "Primat der Person" insistierte. Diese verwirkliche sich immer in Gemeinschaft mit anderen und habe eine spirituelle Dimension. Maritain wirkte denn auch entscheidend an der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen mit; zudem beeinflusste seine Philosophie eine Reihe von christdemokratischen Parteipolitikern im Westeuropa der Nachkriegszeit.
Eine bewusste christdemokratische Ideenpolitik spielte somit eine wichtige Rolle: Überlieferte Ideen Thomas von Aquins und aristotelische Vorstellungen wurden auf eine moderne pluralistische Gesellschaft hin ausgerichtet: Naturrecht diente als Grundlage der Menschenrechte; politische Gleichheit wurde aus dem Christentum begründet; Demokratie wurde als Gemeinschaft von Gemeinschaften definiert, welche ihre Pluralität anerkennen und politische Entscheidungen so weit wie möglich dezentral treffen.
Gleichzeitig war es wohl gerade die philosophische Verschwommenheit des Personalismus, die es einer ganzen Reihe von katholischen Denkern erlaubte, sich von der extremen Rechten abzusetzen, ohne sich gleich als liberal-individualistisch-materialistischer Konvertit wahrnehmen zu müssen. Zu einem sehr abstrakt gehaltenen "Primat der Person" konnte man durchaus auf vielen Wegen gelangen, und der Personalismus ließe sich durchaus als eine Art Übergangs- oder Brückenideologie beschreiben.
Sicher: Ideenpolitik alleine reichte nicht aus. Der Vatikan unterstützte lange die Regimes von Franco in Spanien und Salazar in Portugal. Es bedurfte nicht zuletzt des Drucks von außen durch die USA, um ein eindeutiges Umschwenken zu bewirken, welches in "Pacem in Terris" gipfelte, der als "Friedens-Enzyklika" bekannt gewordenen Schrift von Johannes XXIII. aus dem Jahr 1963. In ihr betonte der Papst den Wert von Frieden und Menschenrechten.
Auch ist nicht zu bestreiten, dass hartes politisches Kalkül und spezifische historische Kontexte wie der Kalte Krieg (und im Falle Italiens: Korruption) den Triumph der christdemokratischen Parteien ermöglichten. Ihre Form des Antikommunismus, die nicht mit der traditionellen, nach dem Zweiten Weltkrieg diskreditierten Rechten identifiziert wurde, war wohl ihr größtes Erfolgsgeheimnis, das ihre Stärke begründete. Diese spezifische historische Konstellation lässt sich offensichtlich nicht wiederholen.
Doch die Diskussion um muslimische Demokratie kann nicht einfach mit Verweis auf Probleme aller historischen Analogiebildungen oder auf die offensichtlichen strukturellen Unterschiede zwischen Islam und katholischer Kirche - es gibt keinen muslimischen Papst - ad acta gelegt werden. Sicher, die Unterstützung von Leo XIII. für die Renaissance von Thomas von Aquin im neunzehnten Jahrhundert machte Gedankengut wie Maritains erst möglich und für die Kirche prinzipiell legitim. Aber Maritain entwickelte seine Konzeption "christlich inspirierter Demokratie" außerhalb vorhandener politisch-theologischer Hierarchien. Das machte sie umso glaubwürdiger für Christen, die einen legitimen, aber eben keinen direkt christlichen Staat wollten, ebenso wie für Nichtgläubige, die nach einem liberal-demokratischen Konsens suchten, welcher auch die Gläubigen einschließen konnte.
Es ist naiv zu meinen, reformorientierte muslimische Intellektuelle könnten im Alleingang eine Art Liberalisierung islamisch geprägter Länder bewirken. Aber ob sie einen Ideenvorrat anhäufen können, der eine moderat-demokratische Form islamisch inspirierten politischen Handelns auch in den Augen eher säkular denkender Menschen rechtfertigt, wird von entscheidender Bedeutung sein.
JAN-WERNER MÜLLER
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