Debatte Kaukasus-Konflikt: Kriegserzählungen

Kein Krieg ohne offizielle Legitimation. Das Manko der Russen ist, dass ihre Propaganda nur nach innen funktioniert, das der Georgier, dass sie sich nur an den Westen richtet.

Mit dem Ausbruch des russisch-georgischen Krieges setzte sich eine Propagandamaschine in Gang, die ihr Publikum von den ersten Stunden an mit einer Informationslawine überzog. Im Zentrum der russischen Kriegserzählung findet sich bis heute eine georgische Führung, die den Überfall auf Südossetien heimtückisch geplant und minutiös vorbereitet hatte.

Im Internet verfolgte ich, wie ein verwirrter georgischer Staatschef die USA bat, Russland den Krieg zu erklären. Mit keinem Wort ging Saakaschwili auf den Beschuss von Zchinwali und ossetischen Dörfern ein. Die russische Aggression gegen das kleine, freiheitsliebende Land sei nicht provoziert, vielmehr von langer Hand vorbereitet gewesen. Mit Georgien geschehe, was Ungarn 1956, die Tschechoslowakei 1968 und Afghanistan 1979 erleben mussten.

Und so wurde schnell klar: Ein Dialog ist nicht möglich. Für Moskau ist der georgische Präsident kein Politiker mehr, sondern ein Verbrecher. In den Augen von Tiflis sind Putin und Medwedjew in das souveräne Georgien eingefallen, um es zu okkupieren. Und da es das kleine Georgien mit ihnen nicht aufnehmen kann, müssen diese von der internationalen Gemeinschaft bestraft werden.

Am 11. August kehrte ich von Moskau nach Berlin zurück. Hier begegnet mir seitdem eine Narration des Krieges, die sich von der russischen fundamental unterscheidet. Der Überfall auf Südossetien wird entweder überhaupt nicht erwähnt oder als zwar bedauerlicher, aber kleiner Fehler Saakaschwilis abgetan, der niemals Grund für eine derartige Aggression und groß angelegte Okkupation eines beträchtlichen Teils des Staatsgebietes eines UNO-Mitglieds hätte sein können. In dieser Erzählung hat Russland die georgische Aggression gegen Südossetien nur als Vorwand für seinen Einfall in Georgien benutzt.

Hier wird deutlich, dass es keinen einzigen Berührungspunkt zwischen diesen Narrationen gibt, ein Dialog zwischen den Anhängern dieser unterschiedlichen Erzählungen nicht möglich ist. Jede ist in sich schlüssig, gerät jedoch ins Wanken, wenn sie mit der konkurrierenden zusammenprallt.

In der Folge wird sich die öffentliche Meinung in Russland noch weiter von der öffentlichen Meinung im Westen entfremden, wird die Atmosphäre zunehmend feindseliger. Für viele in Russland ist, unabhängig von ihrer Haltung zu Putin und Medwedjew, Georgien der Aggressor, auf den die russische Regierung und die Armee adäquat reagiert haben. Man ist entsetzt über die Voreingenommenheit der westlichen Narration des Krieges und verliert endgültig den Glauben an den Mythos der westlichen Pressefreiheit. Dem autoritären Regime in Russland ist es tatsächlich gelungen, die amerikanischen und europäischen Medien vor den eigenen Bürgern zu diskreditieren.

Trotzdem offenbart die russischen Propaganda auch ein Manko: Sie ist nur auf den Verbraucher zu Hause ausgerichtet und kann international kaum etwas bewegen. Zudem geht sie von der Prämisse aus, dass es keine Abhängigkeit Russlands vom Westen gäbe. Allein die Gas- und Ölpreise sprechen eine andere Sprache. Russlands Machthaber haben zwar die Opposition zurückgedrängt, kontrollieren die Medien fast vollständig, doch sie sind autistisch geworden. Sie haben ihr Gefühl für die Welt draußen verloren.

Vom Journalismus im Westen wünschte ich mir eine umfassendere Betrachtungsweise des Konfliktes im Kaukasus, die die russische Narration mit in ihre Betrachtung einbezieht. Selbst wenn die russischen Militärs Saakaschwili tatsächlich eine Falle gestellt und Georgien in den Konflikt hineingezogen haben, ist der Befehl zum Bombardement von Zchinwali verbrecherisch. Wenn die Bewohner von Südossetien für Georgien eigene Staatsbürger sind, ist deren Bombardierung und Beschießung noch um ein Vielfaches absurder und verhindern ein Zusammenleben auf Jahrzehnte.

Vor drei Tagen nun anerkannte der russische Präsident Medwedjew die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens. Die russische Kriegsnarration erhielt dadurch Gesetzeskraft, das Recht der Stärke wurde zur Stärke des Rechts. Wenn das militärische Vorgehen in Georgien das Vorgehen der Nato in Serbien 1999 imitiert, ist dieser Akt die Nachahmung der kürzlichen Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo.

Moskaus Handeln ist paradox: Was es seinerzeit auf das Schärfste verurteilt hatte, tut es nun selbst - und in einer gesteigerten Form. So erleben wir nun die praktische Umsetzung der multipolaren Welt, wie Putin sie in München verkündet und die damals viele schockiert hatte. Der Satz "Quod licet Jovi, non licet bovi" (zu Deutsch: "Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Rindvieh nicht erlaubt"), der bislang für eine "lokale Supermacht" galt, hat seine Gültigkeit verloren: Dem russischen Stier ist in seiner Einflusssphäre erlaubt, so die Meinung der herrschenden russischen Elite, was sich der amerikanische Jupiter seit 2001 in den unterschiedlichsten Teilen der Welt erlaubt.

Doch hinter der Rhetorik der kämpfenden Seiten, der Großmachtrhetorik der russischen Seite und der proamerikanischen und prowestlichen Rhetorik des georgischen Widerparts, stehen am Ende mehr Gemeinsamkeiten, als man zunächst vermuten könnte. Der Verlust des Imperiums führt bei beiden Seiten zu Phantomschmerzen, auf der russischen Seite sicherlich mehr als auf der georgischen. Beide haben Angst vor einem Zusammenbruch ihres Territoriums. Und beide Seiten sind zu fast allem bereit, diesen Zusammenbruch zu vermeiden: Putin kam auf dem Höhepunkt des zweiten Tschetschenienkrieges an die Macht; der georgische Rüstungshaushalt hat sich unter Saakaschwili verdreißigfacht. Beide Seiten glauben, politische Probleme ließen sich mit Gewalt lösen. Man könne sich mit Gewalt unliebsamer Minderheiten entledigen, glaubt die eine, einen souveränen Staat "zum Frieden zwingen", glaubt die andere Seite.

Noch vor zwei Jahrzehnten gehörten Russland und Georgien zu einem Staat, der Sowjetunion. Doch mit deren Zerfall verschwanden nicht die von ihr geschaffenen Probleme, sind die in Sowjetzeiten begangenen Verbrechen nicht einfach verschwunden. Man kann eine totalitäre Vergangenheit nicht durch das bloße Übernehmen von demokratischer Terminologie abwerfen. Es gilt, die Verantwortung für diese Vergangenheit auf sich zu nehmen und sie nicht den anderen zuzuschieben.

Russland ist für Abchasen und Osseten attraktiv, weil es bei den derzeitigen Rohstoffpreisen so viel reicher ist und sich in Russland ungleich leichter Arbeit finden lässt als in Georgien. Solange dies so ist, wird es für den kleinen kaukasischen Staat sehr schwer sein, die abgespaltenen Territorien wieder zurückzugewinnen. Aus der Geschichte wissen wir: Grenzen verlieren mit wachsendem Wohlstand ihren Sinn.

Aus dem Russischen übersetzt von Bernhard Claasen

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.