Debatte Horst Köhler: Der Antidemokrat
Die Politikverdrossenheit der Politiker nimmt zu, wie auch unser Ex-Präsident zeigt. Das Kampf fürs Gemeinwohl wandert so immer weiter in die Initiativen ab.
W ie man es dreht und wendet, etwas politisch Konsistentes lässt sich aus Köhlers Rücktrittsrede nicht destillieren. Wohl aber eine hybride Anmaßung, wonach Kritik an ihm, Horst Köhler, identisch sei mit der Beschädigung eines Verfassungsorgans. Entsprechend nimmt sich der kritisierte Bundespräsident heraus, den Bettel hinzuschmeißen. Einfach so, keinen Bock mehr. Wie ein Anhänger des postmodernen Lebensstils, der sein Leben gestaltet, indem er jeweils beliebig Beziehungen und Verpflichtungen abbricht und neu beginnt.
Wie passt das zusammen, das Bild Köhlers als bienenfleißiger, dem Gemeinwohl ergebener Pflichtmensch und diese paar hingeworfenen, die Öffentlichkeit beleidigenden Rücktrittssätze, dieses "ihr könnt mich mal"? Zur Begründung ist jetzt zu hören, Köhler sei eigentlich Antipolitiker, ihm fehle es an langem Atem, an Ironie und Geduld, ebenso wie an Machtbewusstsein und an Machtwillen - Eigenschaften, die für jeden Berufspolitiker konstitutiv seien.
Tatsächlich bezog Horst Köhler seine Popularität bei vielen Menschen aus einem heimlichen Komplizentum mit dem Publikum: Ich fühle so wie ihr, bin anständig, bin empört angesichts der Monstren, die sich der Finanzwelt bemächtigt haben. Köhler stellte den Brokern und Bankern das Bild des "ehrlichen Bankiers" gegenüber, also eigentlich das von ihm entworfene Selbstbild. Im Vollgefühl seiner Popularität identifizierte er sich mit dem "Volk". Weshalb jeder öffentliche Angriff auf ihn einen Angriff auf seine besondere Beziehung zu den Deutschen bedeutete, eine Beziehung, die vorpolitisch war, vordemokratisch und identitär. Die kein Dazwischentreten einer kritischen Instanz duldete.
Zweifellos ist für Köhler der "Dienst am Gemeinwohl" ein wichtiger Imperativ. Gleichwohl war er offenkundig der Ansicht, dass ihm, wo er nun schon vom Olymp des Internationalen Währungsfond herabgestiegen und sich dem Volke zugeneigt hat, keine Widerworte gebührten. Dass der Dienst am Gemeinwohl Streit voraussetzt, eine Auseinandersetzung darüber, worin dieses Wohl besteht und was es für die Klassen und Gruppen in einer Gesellschaft Unterschiedliches bedeutet, dieses politische Moment hat sich Köhler nie erschlossen.
Aber ist das Amt des Bundespräsidenten nach der deutschen Verfassung nicht gänzlich ungeeignet für Machtbewusstsein und die Demonstration von Machtwillen? Beschränkt sie den Präsidenten grosso modo nicht auf notarielle und repräsentative Aufgaben? Nicht umsonst hat die deutsche Nachkriegsgeschichte das Bild des wohlwollenden, mit dichter weißer Haarpracht ausgestatteten Präsidenten-Großvaters hervorgebracht.
Der Volkspädagoge
Tatsächlich aber hat die Verfassungswirklichkeit Deutschlands den Präsidenten mit einer sehr wirksamen Waffe der symbolischen Politik ausgestattet: seiner möglichen Rolle als präsidialer Volkspädagoge, der - von oben nach unten - den Menschen ein Licht aufsetzt und zeigt, wo es langgehen soll. Historische Hauptbeispiele sind die Rede anlässlich des 20. Jahrestages der Befreiung vom NS-Regime von Richard Weizsäcker sowie Roman Herzogs "Ruck"-Rede, mit der er die politische Klasse zu "Reformen" in Richtung Neoliberalismus anfeuern wollte.
Dieses Instrumentarium des Volkspädagogen zu gebrauchen, heißt, bewusst Macht auszuüben, die Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Aber hinter Köhlers bankenkritischer Rhetorik stand keine politische Idee, geschweige denn ein politischer Plan. Nachdem er ebenso hinreichend wie konsequenzlos geklagt hatte, schwieg er. In einem autoritären System hat das Schweigen des Staatsoberhaupts eine meist schwerwiegende politische Bedeutung. In der Demokratie demontiert es den Amtsinhaber. So sympathisch Köhlers unprätentiöse Art vielen Menschen war, das starke, autoritätsfixierte Bedürfnis nach präsidentieller Weisung von oben konnte er nicht befriedigen. Entsprechend selten wurde er wirklich ernst genommen.
Macht als Bürde empfunden
Ist Köhler ein Avantgardist der Amtsniederlegung? Längst sind die Zeiten vorbei, in denen ein Politiker in den Stiefeln starb, wie es etwa für die historische Sozialdemokratie von August Bebel bis zu Willy Brandt der Fall war. Dennoch: Noch immer hört man von Berufspolitikern, für sie gelte das Ethos, "dicke Bretter" zu bohren. Was sie nach eigenem Bekunden antreibt, sei, "Politik zu gestalten", zäh und langfristig. Das aber gehe nur mithilfe politischer Macht. Politische Macht verleiht nicht nur materielle Vorteile, sondern ein Lebensgefühl, das von der permanenten Aufmerksamkeit der Umwelt zehrt, das mit Prominenz verbunden ist. Wie sonst sind die Schmerzen pensionierter oder abgehalfteter Politiker zu erklären, traurige Figuren, die materiell versorgt, aber unbeachtet ihr Leben fristen müssen? Macht ist hier Lebenselexier, lustbesetzt.
Indes sprechen einige Indizien dafür, dass politische Machtausübung nicht mehr als Lebenselexier, sondern als Bürde angesehen wird, an der man pflichtgemäß ein paar Jahre trägt, sie dann aber möglichst bald von sich abtut. Die anhaltende Kritik am Berufspolitiker, der sich von der Schule an der Parteipolitik verschrieben hat, kratzt am Selbstbewusstsein der Betroffenen. Empirische Untersuchungen belehren uns, dass nicht die Politik, sondern die Politiker Jugendliche davon abhalten, sich fürs Gemeinwohl einzusetzen. Die Initiativen, denen sie sich anschließen, sind antihierarchisch organisiert. Sie erlauben den Aktivisten, Umfang und Dauer ihres Einsatzes selbst zu bestimmen.
Zu diesem offensichtlichen Trend tritt für politisch engagierte Leute der nagende Zweifel, ob durch parlamentarische Arbeit überhaupt etwas Wesentliches bewirkt werden kann. Frisst sich diese Auffassung weiter durch, so verliert die parteipolitische Arbeit den Pflichtcharakter und die Würde, die von ihrer Beziehung zur Sorge ums Gemeinwohl herrührt. Dann ist Politiker ein Job wie jeder andere, und man kann ihn jederzeit kündigen, ohne irgendjemandem Rechenschaft abzulegen. Das Ethos vom Gemeinwohl wird dann endgültig in die Bürgerinitiativen abwandern.
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