Ich denke, die Sache ist sehr viel simpler, als Herr Brumlik (vermutlich im Interesse der Zeilenanzahl, die er an die taz zu liefern versprochen hat) glaubt. Frau Ysilanti hat nämlich nicht nur ein Versprechen gegeben, sondern gleich mehrere. Wobei es keineswegs ausschließlich in ihrer eigenen Macht gelegen hat, all diese Versprechen gleichermaßen und vollständig einzuhalten.
Leider hat sie die Konsequenzen ihres Wahlkampfes nicht vorhergesehen. Sie ist eben auch nur ein Mensch, noch dazu einer, der vergleichsweise neu im Geschäft ist. Selbst Koch, ein "alter Hase" in der Landespolitik, hat sich (den Hessen sei Dank) verspekuliert. Shit happens, wie man heute so schön sagt. Frau Ypsilanti jedenfalls hat ganz offensichtlich viel zu sehr vertraut (auch das ist menschlich, wenn auch riskant). Auf ihre diversen Berater nämlich und diese wiederum haben auf DEN Wähler vertraut. DER Wähler, so die Annahme der Berater, würde ein Nie-mit-der-Linken-Wahlversprechen mit einer eigenen SPD-Mehrheit honorieren, zumindest jedoch mit einer Stimmenzahl, aus der sich eine Linke-freie Regierung formen lässt, welche die übrigen Wahlversprechen der SPD-Frau zur Realität machen kann. Das Problem der Dame besteht nun darin, dass DER Wähler nicht gehalten hat, was ihre-Berater sich (und ihr) von ihm versprochen haben. DERr Wähler hat vielmehr zusammengewählt, was vor dem Hintergrund eines einzelnen Berater-Versprechens nicht regierungsfähig ist. Mag sein das liegt daran, dass DER Wähler, anders als die Berater geglaubt haben, keineswegs nur eine Einzelperson ist, die es zu überzeugen galt - ein launischer Souverän etwa, der (um es seinem Vater-Vorgänger endlich richtig zu zeigen) in die Geschichtsbücher einzugehen wünscht. Der Wähler ist vielmehr eine durch und durch ?multiple? Persönlichkeit.
Wer multiplen Persönlichkeiten zutraut, dass sie sich in ihrem Verhalten durch gegebene Versprechen beeinflussen lassen, ist selbst Schuld, finde ich (oder mit Herrn Brumlik zu sprechen: Jedes MORALISCHE Sollen setzt ein Können voraus). Mit meiner Vorstellung von Moral ist ein Leichtsinn, wie ihn die SPD Wahlberater (wer auch immer sie gewesen sein mögen) an den Tag gelegt haben, jedenfalls kaum zu vereinbaren. Wenn Frau Ypsilanti erwartet hat, dass die genannten Damen und Herren (waren überhaupt Damen dabei?) ihr nun einen Weg aus dem von ihnen verursachten Dilemma zeigen werden, könnte sie sich empfindlich geirrt haben. Das ist schade, finde ich. Vor allem wegen der übrigen Versprechen, die sie ihren Wählern seinerzeit gegeben hat. Man soll ohnehin Verwirrte schließlich nicht zusätzlich brüskieren. Das macht sie bloß noch unberechenbarer.
Was nun den angeblichen Bruch des Nicht-mit-der-Linken-Wahlversprechens angeht: Nicht die Umstände haben sich geändert, sondern die Wahrnehmung dieser Umstände. Das Glas ist, anders als Herr Macciavelli zu glauben bereit war, nie ganz leer oder ganz voll. Es ist genau zur Hälfte gefüllt. Will sagen: Ob es mehr ?gute? oder mehr ?schlechte? Menschen (welch eine Einteilung!) gibt, ist schlicht eine Frage des persönlichen Standpunktes. Man sieht nur das wirklich deutlich, was einem vergleichsweise nahe ist. Mit der Entfernung schwindet die Größe jedes Gebirges, und zwar mitunter ganz erheblich. Mag sein, der eine oder andere SPD-Berater hat entschieden zu viel Zeit hinterm großen Teich oder auf edlen Empfängen verbracht. Genau wie Herr Macciavelli.
Übrigens: Der Irrtum an sich, sehr geehrte Frau Ypsilanti, ist keineswegs unmoralisch. Unmoralisch ist es bloß, seine Irrtümer (ebenso, wie die anderer Leute) für unverzeihlich und vor allem für unkorrigierbar zu halten. Nur wer aufgibt, handelt wirklich unmoralisch. Glauben Sie mir: Ich weiß, wovon ich schreibe.
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