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Debatte GemeinschaftsschulePädagogik für das 21. Jahrhundert

Kommentar von Christian Füller

In NRW wurde sie vorerst gestoppt, in BaWü darf sie nun kommen. Doch die Gemeinschaftsschule wird von CDU-Dinosauriern torpediert - und Erfahrungswerte fehlen.

Sollen jetzt bis zur 10. Klasse zusammen lernen können: Schulkinder in BaWü. Bild: dapd

D ie neue Stuttgarter Regierung hat Bildung als ihr Kernstück herausgestellt: In Baden-Württemberg soll eine andere Schule entstehen. Grün-Rot will sogenannte Gemeinschaftsschulen möglich machen, das sind Schulen, in denen alle Kinder bis zur zehnten Klasse zusammen lernen können. Und in denen auch anders gelernt wird: individuell nämlich. Die neuen Regierer machen zugleich deutlich, dass die neuen Schulen kein Top-down-Projekt sind: Gemeinschaftsschulen werden nur da entstehen, wo die Gemeinden und Schulträger das wollen.

Das ist ein klares Bekenntnis von Grün-Rot, die tiefe deutsche Schul- und Demografiekrise endlich ernst zu nehmen. Aber eine Bildungsrevolution ist es noch nicht.

Dennoch spuckten die Agenturen sogleich Meldungen wie diese aus: "Die Einführung der Einheitsschule ist ein Angriff auf das Gymnasium und sie verwässert anerkannte Bildungsabschlüsse." So kommentierte der bayerische Kultusminister Ludwig Spaenle die grün-rote Schulevolution.

Bild: foto: privat
Christian Füller

Christian Füller ist Bildungsredakteur der taz.

Die Ständeschule der Spaenles

Spaenle ist Sprecher der unionsgeführten Länder. Er gehört zu den Dinosauriern unter den Kultusministern: relativ sehr kleiner Kopf im Verhältnis zum ohrenbetäubenden Lärm, den sie ständig erzeugen. Sie sind konzeptionell stehen geblieben bei der dreigliedrigen Ständeschule, die man schwer in das 21. Jahrhundert hineinargumentieren kann. Man fragt sich immer, was Regierungschefs der Union motiviert, Figuren wie Spaenle, oder den Ex-Offizier Bernd Althusmann (Niedersachsen) in ihrem Kabinett für die Wissensgesellschaft zuständig zu erklären. Allein die Benutzung des Terminus "Einheitsschule"zeigt, wo diese Leute stehen: Es ist ein Kampfbegriff aus den 1860er Jahren, als die Lobby des humanistischen Gymnasiums gegen die Ausweitung der Abiturquote auf mehr als ein Prozent polemisierte. Noch Fragen?

Baden-Württemberg wird also das erste der wichtigen fünf großen Bundesländer - NRW, Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen - sein, das die Gemeinschaftsschule im Gesetz verankert. Bislang ist die Gemeinschaftsschule ja nur in Schleswig-Holstein und Berlin zuhause, manches andere kleine Land (und einige Schulträger) kokettieren mit ihr. Aber drei Viertel der deutschen Schüler, die in den Großen Fünf zuhause sind, wurden bislang in die alte gegliederte Schule gezwungen. Mit anderen Worten: Jetzt beginnt die Schulreform erst.

Zu Konsumenten degradiert

Die Vorteile der Gemeinschaftsschule für ein Land wie Baden-Württemberg liegen auf der Hand. Sie vermag es, erstens, bei sinkenden Schülerzahlen die Schulen auch in kleinen Gemeinden zu halten. Sie kann so das dramatische Sterben hunderter Schulen verhindern. Dieses Sterben hat weit reichende strukturpolitische Folgen: Geht die Schule, stirbt das Dorf. Die Gemeinschaftsschule bedeutet für ein Land des Mittelstandes wie Baden-Württemberg, dass es seinen Gemeinden - endlich! - ein strukturpolitisches Pfund in die Hand gibt: Sie können wieder Ingenieure für das technologieorientierte Handwerk vor Ort anwerben, weil sie nicht nur eine weiterführende Schule bieten, sondern obendrein das Abitur.

Die Gemeinschaftsschule bringt, zweitens, einen pädagogischen Paradigmenwechsel: Weg vom Konsumieren hin zum Agieren. Unterrichtet man nämlich sehr verschiedene Schüler-Talente prinzipiell gemeinsam, dann muss man das Lernen ganz anders arrangieren als in der alten Belehrungsanstalt. Es fällt der eintönige und überkommene Fachunterricht in kleinen Zeitfenstern weg, der meistens frontal abgehalten wurde. Er ist es, der Schüler zu Konsumenten degradiert. An seine Stelle treten individuell-kollektive Lernformen, in denen die Schüler zu Produzenten werden: Sie bestimmen in Lernbüros ihr Tempo selbst, sie erarbeiten sich Sinn und Gegenstände vieler Wissensgebiete eigenständig, sie forschen idealerweise in großen fachübergreifenden Projekten zusammen mit anderen Schülern.

Für manchen mag sich das wie hohler pädagogischer Neusprech anhören, in Wahrheit steckt darin die Lern-Zukunft der postindustriellen Informationsgesellschaft. Weil die Schüler sich in eigenaktiven Lernformaten neue Aufgaben selbständig suchen, sie lösen wollen und dabei kooperieren und präsentieren müssen, machen sie das, was der US-amerikanische Autor Tony Wagner 21st-Century-Skills nennt: Problemlösungskompetenz, die Fähigkeit zur Kooperation, unternehmerisches Denken, Kreativität. Das sind Kompetenzen, die der Harvard-Professor nicht etwa aus der Arbeit von Schulen extrahiert hat, sondern in Interviews mit Personalmanagern der Industrie identifizierte. An wenigen Orten in Deutschland werden sie so schmerzlich vermisst wie im Boomland Baden-Württemberg.

Metzger und Analphabeten

Nicht ganz zufällig stehen alle diese Kompetenzen ja auch im modernsten deutschen Post-Pisa-Papier. Verabschiedet hat es der Baden-Württembergische Handwerkskammertag, der wahrlich kein Hort hektischer gesellschaftlicher Modernisierung ist. Dass der konservativste Wirtschaftsverband es getan hat, ist Ausdruck der Lage der Nation am Standort in Baden-Württemberg: Die Metzger, Schreiner und Mittelständler bekommen nämlich dort, wo die Global Player Porsche, Bosch, Daimler etc. die besten Absolventen aus den Schulen staubsaugen, nur mehr Schulabbrecher, Risikoschüler und funktionale Analphabeten als Lehrlinge. Die scheidende Smartphone-Kultusministerin Marion Schick hatte dieses Problem noch geleugnet: Sie machte eine Politik mit, die auf bloße Umbenennung der Hauptschulen in Werk-Realschulen setzte. Diese Missgeburt hat mit zur Abwahl der Regierung beigetragen.

Die Gemeinschaftsschule ist das richtige Angebot. Aber sie wird kein Selbstläufer werden. Das Problem ist, dass sie noch kaum jemand kennt und dass viele Lehrer sie noch nicht können. Die Zurückweisung dieser Schulform lag ja nicht allein an der Sturheit modernisierungsresistenter Minister. Das alte Lernen à la Feuerzangenbowle steckt noch tief in den Köpfen. Es gut, dass das technologisch am weitesten entwickelte deutsche Land dies nun ändern will.

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5 Kommentare

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  • HS
    Heidrun Scheller

    @Florentine: Der Missstand in unserem Bildungssystem ist hinlänglich bekannt und hätte nicht von Ihnen beklagt zu werden brauchen. Die Ursachen dafür sind in vielen Büchern nachzulesen:

    - zu frühe Selektion der Kinder in "schulfähig" oder "nicht schulfähig". Letzteres bedeutet: du bist noch zu klein, zu dumm, kannst nicht genug, um in die Schule gehen zu dürfen. Schon ist der erste Knick in der Bildungsbiografie da - schlimm, weil man immer noch den Gedanken hegt und pflegt, nur in homogenen Gruppen sei die bestmögliche Förderung der Kinder gegeben.

    - die Selektion nach der 4. Grundschulklasse bedeutet: wer Geld und Einfluss hat, aber ein nur mittelmäßig begabtes Kind, bemüht sich um Nachhilfe.

    Nachhilfe ist etwas, was es nur in Deutschland in der ausgeprägten Form gibt - in anderen europäischen Ländern lernen die Kinder in der Ganztagsschule und machen auch dort das, was bei uns "Hausaufgaben" heißt - unter Anleitung von Lehrkräften und nicht von pädagogischen Hilfskräften, die meistens nur wenig helfen können, wenn die Grundschulzeit sich dem Ende zuneigt.

    So werden aus kleinen Prinzen und Prinzessinnen frühzeitig arrogante, sozial inkompetente Erwachsene.

  • J
    Justitia

    @ulschmitz

     

    nun, da haben sie ja Glück gehabt. Der Pisa-Koordinator Schleichter (Physiker und Statistiker, Preisträger bei Jugend forscht im Bereich Physik) durfte in Deutschland nicht aufs Gymnasium - sein Lehrer befand ihn für zu "praktisch begabt" und für zu dumm -- er musste auf die Waldorfschule, weil die auch Kinder nimmt, die keine Gymnasialempfehlung bekommen haben - so viel zur Aussagekraft einer Schulempfehlung bei Grundschülern!

     

    viele Kinder flüchten heute auf Privatschulen , weil "sie" im Regelschulsystem scheitern - man denke nur an die kranken, aber nicht dummen ADHS-Kinder, deren Abschiebung einfach so bequem ist! Die Waldorfschulen platzen in manchen Städten aus allen Nähten - die nehmen nämlich das, was sie da kriegen und was andere oft nicht haben wollen.

     

    @Florentine

     

    auch in BaWü gibts es viele, die funktionale Analphabeten sind. Durch die reduzierten Lehrpläne in den Haupt- und Werkrealschulen haben es diese Kinder übrigens auch schwerer, wenn sie Schulabschlüsse im 2. Bildungsweg nachholen, weil ihnen die Basis Allgemeinbildung fehlt. Auch gibts nicht mal genug Plätze für alle Interessierten.

     

    Bawü und bayern sind gut bei den nationalen Bildungsvergleichen, weil sie lt. dem baden würtembergischen Handwerk einfach nur die leistungsstärksten Hauptschüler aus M-Zweigen mit einrechnen, die aus den Praktiker-klassen oder Werkrealschulen aber nicht -- andere Bundesländer differenzieren aber nicht erneut auf und können somit nicht die Zahlen künstlich beschönigen, in dem sie schlechtere herausrechnen.

     

    ich empfehle ihnen die Arte Doku "Die Hauptschule" - dann können sie sich mal ansehen, welche Kinder in diesen Schulen sind (Stichwort: meine Alleinerziehende Mutter hat Krebs" - dann sehen sie, die tollen anregenden Lehrpläne "was hast Du von deinem Beruf mitgebracht - Arbeitsauftrag male einen Friseurspiegel"

     

    die Wahrheit ist: die Deutschen schieben die ganze Zeit kranke, unglückliche und anstrengendere Kinder ab, bei denen man halt ein bisschen mehr Zeit investieren müsste --- aber das ist zu anstrengend - das andere ist viel bequemer -- also machen sie die Kinder dümmer in schlechten Schulen, in denen man nichts mehr lernt!

  • U
    ulschmitz

    "Florentine" hat Recht. Lese ich Herrn Füllers "Auslassungen", wundere ich mich immer wieder, wie ich jemals ein Abitur schaffen konnte: Arbeiterfamilie, "humanistisches" Gymnasien, irgendjemand muss mich beim "Selektieren" übersehen haben, vielleicht gab es 1 EINEN Lehrer, der meinte ich hätte da nix zu suchen (dem habe ich's dann gezeigt) - von den anderen kann ich nur sagen: Um meine Herkunft ging es nie, es ging um Leistungen, verschiedene Förderungen usw. - und das von 1962 - 1971. DAS muss sich 1 mal vorstellen!!!!

     

    Am besten machen wird as so: Jede/-r bekommt beim Eintritt in die 5. Klasse das Abitur überreicht...

    besser noch: Abschaffung der Schulpflicht nach dem 4. Schuljahr, alle Schulen werden zu Sozial- und Bildungszentren umgewidmet mit frei vereinbarten Lern- und Ausbildungsplänen.

  • N
    noevil

    Dass es in Hamburg damit nicht geklappt hat, bedauere ich sehr. Torpediert hat es ausschließlich -und sehr geschickt- eine Gruppe, die Exklusivität auf ihre Fahne geschrieben hatte. Nun hoffe ich auf eine erfolgreiche Einführung Schulmodells in Baden Württemberg, auch um damit die Argumente dieses Hamburger Clubs erfolgreich zu widerlegen. Denn unsere Jugend hat Besseres verdient als weiterhin "alte Zöpfe" mit unmenschlichen Sortierrastern!

     

    Erst dann kann dieses gute Modell bundesweit Schule machen. Also Leute/Kinder, strengt euch an und guckt euch diejenigen, die zu torpedieren versuchen, genau an.

  • F
    Florentine

    Den Autoren der taz stinkt es scheinbar so richtig, dass die Hamburger das von der taz und ihren Grünen favorisierte Schulmodell nicht wollten. Sorry, Herr Füller, aber auch ihr Artikel bleibt an oberflächlicher Ideologie haften, wo reflektieren angebracht wäre.

    Da es die letzten Jahre immer mehr Schul- und Ausbildungsabbrecher, Schulabgänger ohne Abschluß, schlecht lesende, schreibende und rechnende 15. jährige (jeder 4.in Deutschland!) und absolut Ausbildungsunfähige Jugendliche gibt,große Teile des nördlich Baden-Würtembergs und Bayerns gelegenen Deutschland aber bereits seit vielen Jahre neue Schulmodelle (von "gemeinsamem Lernen" bis "Integrales Lernen" bis...) versuchen, wäre doch eine Antwort auf die Frage interessant, wie es zu den o. geschilderten Ergebnissen kommen kann, wenn alles Neu-Schul-Modellhafte so gute Ergebnisse zu erbringen scheint. Oder leben die o gemeinten Kinder und Jugendlichen alle in BW und Bayern? Meines Wissens gibt es über Erfolge der neuen Schulmodelle keinerlei ernsthafte Studie. Hinweise aber auf deren Folgen.