Debatte EU-Flüchtlingspolitik: Verhält sich Europa inhuman? Ja!
Die Situation der Flüchtlinge in Europa ist elendig. Die Rückführungsrichtlinie verschlimmert ihre Not.
D ie Rückführungsrichtlinie schreibe eine "menschenwürdigere Abschiebepolitik" in ganz Europa fest, schreibt Wolfgang Kreissl-Dörfler auf seiner Homepage. Was ist das: eine "menschenwürdigere Abschiebepolitik"? Ein Widerspruch in sich! Und auf jeden Fall eine seltsame Relativierung der Menschenwürde. Menschenwürdig, menschenwürdiger, am menschenwürdigsten? Nein, die Menschenwürde ist unantastbar! Und genau hier hat das Europäische Parlament versagt.
ANGELIKA BEER, 51, sitzt seit 2004 für die Grünen im Europäischen Parlament und war zuvor acht Jahre lang Mitglied des Bundestages. Davor arbeitete die gelernte Arzt- und Anwaltsgehilfin als Referentin für Menschenrechtsfragen bei medico international.
Was ist für die große Koalition im EP menschenwürdig? Familien auseinanderzureißen? Ein Einreiseverbot für fünf Jahre zu verhängen? Minderjährige in Abschiebehaft zu sperren? Bootsflüchtlingen Wasser und Lebensmittel vorzuenthalten? Sie in überfüllte Auffanglager in der EU oder in der Sahara einzupferchen?
Das Europäische Parlament hat mit der Abschieberichtlinie seinen Ruf als Hüter der Menschenrechte verspielt. Abschiebungen werden effizienter, die Menschenrechte bleiben auf der Strecke. Das Europäische Parlament hat damit dem Druck der nationalen Regierungen für eine restriktive Migrations- und Flüchtlingspolitik nachgegeben. Dringend notwendig ist eine gemeinsame Europäische Einwanderungspolitik, die regelt, wer legal in die EU einwandern kann, und die endlich dem Sterben im Mittelmeer ein Ende setzt. Doch anstatt dies auf den Weg zu bringen, hat das Europäische Parlament einseitig einer repressiven und inhumanen Abschiebepolitik zugestimmt.
Das Argument, die EU habe wenigstens Mindeststandards gesetzt, die von den Mitgliedstaaten erhöht werden könnten, zieht nicht. Abgesehen davon, dass sich drei Mitgliedstaaten aus dieser Mindestregelung ausklinken konnten, muss klar sein: Menschenrechte sind nicht relativ und nicht verhandelbar. Auch die Verbesserungen in dem einen oder anderen Mitgliedstaat können diese Richtlinie in keiner Weise rechtfertigen. Diese Standards sind unterirdisch.
Flüchtlinge sind keine Verbrecher. Mit der neuen Abschieberichtlinie sollen nun aber irreguläre Migrantinnen und Migranten bis zu 18 Monate eingesperrt werden können - auch dann, wenn die Ursachen nicht im Einflussbereich der Flüchtlinge liegt, sondern beispielsweise an der mangelnden Kooperation des Heimatlandes. Ein Skandal ist insbesondere, dass die Richtlinie auch das Einsperren von Minderjährigen erlaubt.
Das beschlossene fünfjährige Einreiseverbot ist bürokratisch starr und menschlich grausam. Die meisten Menschen, die illegal in Europa leben, sind zuvor legal eingereist und nach Ablauf des Visums nicht mehr ausgereist. Familienangehörige und Freunde von ihnen leben in Europa. Sie sollen in Zukunft fünf Jahre lang nicht mehr einreisen können. Damit werden Familien auseinandergerissen, und vielen Flüchtlingen wird der letzte Halt genommen.
Das Schicksal der Flüchtlinge interessiert nicht - diesen Eindruck muss man gewinnen, wenn man sich allein die Abschiebungsmöglichkeit in Transitländer vor Augen führt, denn auch in den Transitländern werden Flüchtlinge als Illegale verfolgt. Diese Regelung bietet ihnen keinerlei Schutz. Die Abschieberichtlinie bietet auch keinerlei Lösung für die humanitäre Katastrophe, die sich auch dieses Jahr im Mittelmeer abspielen wird. Im Gegenteil: Sie reiht sich ein in ein Maßnahmenbündel, das nur ein Ziel hat: die Abschottung Europas ohne Rücksicht auf die Menschenrechte.
Die Grünen und die Flüchtlingsorganisationen werden weiter in den einzelnen Mitgliedstaaten dafür kämpfen, das durchzusetzen, womit wir im Europäischen Parlament gescheitert sind - das absurde Ergebnis dieser "europäischen Lösung".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl