Debatte Deutschland-Polen: Von Szepan zu Podolski
Kaum eine andere Migrantengruppe ist besser integriert als die polnische. Die polnische Kultur in Deutschland blüht. Man sollte sich auch am Multikulti-Streit beteiligen.
D er Streit, ob den heute in Deutschland lebenden 1,5 bis 2 Millionen Menschen polnischer Herkunft der Status einer nationalen Minderheit zukomme, hat etwas Atavistisches an sich.
Aber hinter diesem Streit, der zum 20. Jahrestag des deutsch-polnischen Freundschaftsvertrages wieder hochkocht, wird nicht ein nachbarschaftliches sondern ein allgemein-deutsches Problem sichtbar: Welche Konsequenzen ziehen wir aus unserer Existenz als Einwanderungsland? Und wie soll sich künftig entwickeln, was der Philosoph Svetlan Todorov als "Drama des Zusammenlebens" bezeichnete?
Was die polnischstämmigen Menschen anlangt, so kann man sich kaum eine Gruppe vorstellen, deren Mitglieder noch weniger Lust verspürten, sich mit den ehemaligen Landsleuten zusammenzutun. Die polnische Kultur in Deutschland blüht, es gibt eine Vielzahl hier lebender und anerkannter Künstler, Schriftsteller und Intellektueller. Zivilgesellschaftliche, kommunale und ökonomische Kooperation verbinden Polen und Deutschland - nicht zu reden von den polnischen Arbeitskräften ohne und mit deutschem Pass, die in den letzten drei Jahrzehnten wesentlich zum deutschen Wohlstand beitrugen. Aber man wird bei uns vergeblich polnische Viertel in den Städten suchen, auf wenig polnische Läden oder Kneipen stoßen. Von einem regen Vereinsleben ganz zu schweigen. Zusammengenommen sind in solchen Bünden und Vereinen rund 25.000 Menschen organisiert, aber die Anzahl der Aktiven soll nicht mehr als 500 betragen.
CHRISTIAN SEMLER Seit 1989 bei der taz. Ein alter Freund der osteuropäischen Demokraten und Träger der Solidarnosc-Dankesmedaille. Er unterstützt die Forderungen der Migranten und tritt für eine humane Flüchtlingspolitik ein.
Zuwanderung und Kontinuität
Entgegen den Auffassungen polnischer Konservativer existiert so gut wie keine Kontinuität zwischen der anerkannten polnischen Minderheit in der Weimarer Republik und den heutigen polnischstämmigen Menschen in der Bundesrepublik. Als Minderheit galten nicht die ins Ruhrgebiet eingewanderten Polen mit ihren reichen polnischen Vereinsleben. Sondern die anerkannte damalige polnische Minderheit lebte autochthon in Gebieten, die heute zur Republik Polen gehören. Genauso autochthon wie die heute vor allem in Oberschlesien lebende deutsche Minderheit. Das Gros der polnischen Einwanderer seit den 1970er Jahren erhielt den deutschen Pass, weil es sich auf zumindest partielle deutsche Abstammung berief. So entstand die paradoxe Situation, dass viele Angehörige der vormaligen polnischen Minderheit im "Deutschen Reich" wegen ihrer deutschen Verwandtschaft Polen verlassen und als Deutsche in der Bundesrepublik aufgenommen wurden.
Zwischen den verschiedenen Einwanderungswellen seit den 1970er Jahren existieren gravierende Unterschiede. Die erste Welle waren "deutsche Deutsche", die nicht vertrieben worden waren, aber mit Polen absolut nichts am Hut hatten. Die zweite Welle seit den 1980er Jahren waren Polen, denen die deutsche Abstammung als Ausreisemöglichkeit diente, ohne dass sie ihre polnischen Wurzeln verleugnet hätten. Heute zählen zu den Zuwanderern Menschen, die leichtfüßig zwischen Traditionen und Kulturen pendeln. Der weite Bogen polnischer Immigrantenbiografien lässt sich an den Fußballerkarrieren ablesen: von Fritz Szepan über Stan Libuda bis zu Miro Klose und Lukas Podolski.
Förderung findet nicht statt
So künstlich und aufgebauscht die Forderung nach Anerkennung als "nationale Minderheit" ist, so berechtigt sind die Forderungen, die die polnischen Verbände mit ihr verbinden und die auch von vielen verbandsfernen Deutschpolen geteilt werden. Entgegen dem Wortlaut des Freundschaftsvertrages von 1991 wird in den meisten Bundesländern das Polnische nicht als Unterrichtssprache angeboten. Selbst in den Grenzgebieten zu Polen sind die Lernmöglichkeiten sehr eingeschränkt. Die "Polonia", als Gesamtheit der polnischen Vereinigungen in Deutschland, erhält keine staatliche Unterstützung, eine institutionelle Förderung findet nicht statt. Aber diese Klage verbindet die Polen in Deutschland mit allen anderen in Deutschland lebenden Nationalitäten mit oder ohne deutschem Pass. Nur dass deren Probleme viel brennender sind als die der gut integrierten Polen.
Minderheitenabkommen anzustreben wie im Fall der verfassungsmäßig verbrieften Rechte der Sorben, Dänen und Roma verfehlt die Aufgaben, vor denen Deutschland als "polyethnische" Gesellschaft steht. Vielmehr gilt es, mit Gesetzeskraft festzuschreiben, dass alle Migrantengruppen das Recht haben, an allen sie betreffenden Entscheidungsprozessen mitbeteiligt zu werden,
Formal hat die Bundesregierung in ihrem 2. Fortschrittsbericht zum "Nationalen Integrationsplan" 2007 dem Prinzip des "migration mainstreaming" zugestimmt. Sie hat für die Organisationen und Selbsthilfegruppen der Migranten finanzielle Förderung in Aussicht gestellt. Der Fortschrittsbericht erweist aber auch, dass die Migranten nach wie vor lediglich Objekte der deutschen Planungen sind. Den weitgefächerten und auch gesellschaftliche Organisationen einbeziehenden Aktivitäten zum Trotz zeigt sich keine wirkliche Verbesserung bei wichtigen Problemfeldern: der im Vergleich zu den Deutschen doppelt so hohen Arbeitslosigkeit, dem Schulabgang ohne Abschluss, dem mangelnden Zugang zu weiterführenden Schulen und dem Zugang zu Lehrberufen
Praxis des "mainstreaming"
Wie es in der Praxis um das "mainstreaming", also die reale Partizipation der Migranten bestellt ist, zeigte sich November letzten Jahres beim vierten von der Bundeskanzlerin einberufenen Integrationsgipfel. Sein Verlauf illustrierte, welche Rolle die Migranten in Wirklichkeit spielen. Nach zig Reden der staatlichen Repräsentanten blieb für die Aussprache nur eine halbe Stunde – dies bei 40 Wortmeldungen.
Kein noch so schöner künftiger Aktionsplan bewirkt etwas, wenn sich die Einstellung der politischen Machtelite gegenüber der Migration nicht ändert. Angela Merkel hielt "Multikulti" eine Grabesrede. Kenan Kolat, Vorsitzender der türkischen Gemeinde in Deutschland, antwortete, "Multikulti" sei das Lebenselexier unserer multiethnischen Gesellschaft. Dieser Streit muss entschieden werden. Wäre schön, wenn sich auch ein paar Protagonisten der polnischen "Minderheit" an ihm beteiligen würden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Türkei und Israel nach Assad-Sturz
Begehrlichkeiten von Norden und Süden
Katja Wolf über die Brombeer-Koalition
„Ich musste mich nicht gegen Sahra Wagenknecht durchsetzen“