piwik no script img

Debatte Demokratie in ÄgyptenLiberale Untiefen

Kommentar von Sarah Eltantawi

Viele Liberale in Ägypten machen es sich zu einfach. Sie schimpfen auf die Islamisten, auf die Armen und über den Verkehr. Und was ist mit der Demokratie?

Auf dem Weg zum Ende des Ramadan. Bild: dapd

D ie überraschende Entlassung von Feldmarschall Hussein Tantawi, dem Vorsitzenden des Militärrats, durch Präsident Mohammed Mursi, hat zum ersten Mal in der Geschichte Ägyptens eine zivile Kontrolle über das Land möglich gemacht. Obwohl dies eine gute Nachricht für alle Unterstützer der Demokratie sein müsste, ängstigen sich viele Ägypter vor Mursis Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, dem politischen Arm der Muslimbruderschaft.

Sie sind überzeugt, dass auf der langfristigen Agenda der Muslimbrüder –ganz gleich, was sie verkünden – die Anpassung der sozialen und gesetzlichen Strukturen an ihre islamistische Ideologie steht. Vielleicht haben sie recht.

Aber ich bin mir mittlerweile sicher, dass eine panische Reaktion deswegen ironischerweise der beste Weg ist, um die Islamisten langfristig zu stärken – und ebenso, dass diese Reaktion der ägyptischen Elite etwas Beunruhigendes über ihr Verhältnis zur Demokratie aussagt.

Bild: privat
Sarah Eltantawi

ist promovierte Religionswissenschaftlerin. Vor Kurzem siedelte Eltantawi von Harvard nach Kairo über, um dort im Rahmen eines Feldforschungsprojekts die Politik der Muslimbrüder zu analysieren.

Panik hilft den Islamisten

Um es klar zu sagen: Die Ängste bezüglich der sozialen Vorstellungen der Islamisten – insbesondere was die Novellierung des Familienrechts betrifft – sind meiner Ansicht nach berechtigt. In der postkolonialen muslimischen Welt insgesamt und sogar der postosmanischen Zeit in Ägypten wurde das Familienrecht traditionell den ultrakonservativen Kräften als Spielball überlassen, damit sie zumindest zeitweise im Kampf für ihr langfristiges Ziel Ruhe geben: die vollständige Einführung des Scharia-Strafrechts.

Die Kolonialmächte waren natürlich nicht bereit, die Kontrolle über das Strafrecht aufzugeben – aber die Gesetze, die Frauen- und Kinderrechte betrafen, wurden geradezu routiniert geopfert, insbesondere von den britischen Kolonialherren. Diese Dynamik könnte sich auch im heutigen Ägypten wiederholen, wenn die Muslimbrüder zu lange an der Macht bleiben werden – und das heißt, länger als eine vierjährige Legislaturperiode.

Reise nach Iran

Der ägyptische Präsident Mohammed Mursi will nach Angaben eines Mitarbeiters Ende des Monats am Gipfeltreffen der Blockfreien Staaten in Teheran teilnehmen. Es wäre der erste Besuch dieser Art seit Jahrzehnten. Der Iran hatte seine Beziehungen mit Ägypten 1979 – dem Jahr der Islamischen Revolution im Iran und des Friedensvertrags zwischen Ägypten und Israel – reduziert. Allerdings hatte der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad vor einigen Wochen auf seiner Homepage mitgeteilt, er habe mit Mursi gesprochen und den islamistischen Präsidenten persönlich eingeladen.

Ägypten führt derzeit den Vorsitz der Blockfreien Staaten und soll diese Position auf dem Gipfel im August an den Iran übergeben. Vor allem Israel und die USA blicken mit Sorge auf eine mögliche Annäherung der beiden Länder. Könnte doch der Besuch nach Jahren der gegenseitigen Ablehnung eine Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Staaten einleiten. Unter Mursis Vorgänger Husni Mubarak hatte sich Ägypten an die Seite Saudi-Arabiens und anderer sunnitischer Staaten gestellt und versucht, den schiitisch dominierten Iran zu isolieren. (dapd)

Bis jetzt gibt es wenig Anzeichen für ein langfristiges islamistisches Programm; die wenigen Anzeichen dafür liefern die Salafisten, die rechts von den Muslimbrüdern stehen. Deshalb muss es das Ziel für die liberalen und revolutionären Kräfte sein, die Entwicklung einer gesellschaftlichen Agenda der Muslimbrüder möglichst einzudämmen und gleichzeitig den Präsidenten bei solchen Themen zu unterstützen, auf die wir uns alle verständigen können.

Nur wenige stellen ja infrage, dass die Wahl, die Mursi an die Macht gebracht hat, im Großen und Ganzen fair abgelaufen und deshalb legitim ist, wenn auch viele mit vielen Umständen der Abstimmung unzufrieden sind.

Nach einem solchen Vertrauensbeweis sollten alle Unzufriedenen mit dem Mursi-Regime seine Partei nach vier Jahren abwählen. Und für den Fall, dass sie nicht, wie viele fürchten, nach der Niederlage bei einer fairen Wahl die Macht abgeben will, sollte schon jetzt klar sein, dass sich die Ägypter die Straßen zurückerobern werden.

Wirtschaft und Sicherheit

Die wichtigsten Themen hierzulande sind heute die Wirtschaftskrise sowie Sicherheits- und Verfassungsfragen. Deshalb überrascht mich auch die dominierende Haltung auf den vielen politischen TV-Kanälen Ägyptens. Um nur ein Beispiel zu nennen: Nur einen Tag, nachdem Mursis neues Kabinett vereidigt wurde – dem sich die revolutionären Kräfte in einigen Fällen Berichten zufolge nicht anschließen wollten – kommentierten die TV-Moderatoren, als würden sie gar nicht in Ägypten leben und als wären sie nicht Teil einer möglichen Lösung.

Unbesehen der aktuellen politischen Ereignisse lamentierten sie wie eh und je darüber, dass die legendären Kairoer Verkehrsprobleme noch immer ungelöst sind und auch die Sicherheit noch nicht vollständig wiederhergestellt worden sei.

Geradezu symbolisch für die Prioritäten der Ober- und Mittelschicht begannen die TV-Gäste und Interviewpartner über die starke Zunahme von Händlern in der Kairoer Innenstadt zu diskutieren. Die verkaufen ohne Genehmigung alles Mögliche von Plastiksandalen über Kleidung bis hin zu Obst auf den Straßen. Ein Schandfleck der Hauptstadt, so meint die Elite.

Mursi ist anzuerkennen

Als ich das Problem mit einigen Freunden diskutierte, schlug ich vor, dass das Problem am besten mit Programmen zur Armutsmilderung und der Schaffung alternativer Verdienstmöglichkeiten angegangen würde, sodass die Händler nicht mehr auf ihren illegalen Verkauf angewiesen seien. Meine Freunde nickten zwar zustimmend, fingen aber bald schon wieder an, die Mursi-Regierung für ihr gesellschaftliches Programm, das zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht existierte, vernichtend zu kritisieren.

Ich glaube mittlerweile, dass diese „Rhetorik der Panik“ zwei Zwecken dient. Der erste ist: Man möchte sich nicht damit konfrontieren, dass die liberalen und revolutionären Kräfte die Wahlen verloren und eine Menge Arbeit vor sich haben, wenn sie die nächsten gewinnen wollen. Diese Arbeit beinhaltet, dieselben Massen für sich zu gewinnen, die auch die Liberalen gern abwertend als bloße „Bittsteller für Öl und Brot“ bezeichnen.

Der zweite Grund ist – Entschuldigung, dass ich hier spekuliere –, dass viele Bessergestellten bewusst oder unbewusst die Demokratie ablehnen, denn sie könnte die Privilegien mancher Ägypter gefährden. Diese Einstellung ist gefährlich. Die Muslimbruderschaft wird immer machtvoller. Und gleichzeitig stimmen Teile der ägyptischen Elite eine Rhetorik an, die sich außerhalb der Grenzen der demokratischen Institutionen und Prozesse bewegt. An der Anerkennung, dass Mursis Präsidentschaft demokratisch legitimiert ist, führt aber kein demokratischer Weg vorbei.

Wenn sie der jetzigen Regierungspartei signalisieren, dass sie nicht mit ihr kooperieren werden, weil sie diese Regierung a priori ablehnen, werden die Muslimbrüder damit legitimiert, solchen Wählern gegenüber keine Rechenschaft ablegen zu müssen – und bekommen damit die Möglichkeit, noch mehr Macht an sich zu ziehen. Und das könnte ihnen genau die Zeit geben, die Gesetze einzuführen, vor denen sich die Liberalen so fürchten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • D
    D.J.

    Soso, die Briten haben also Ende des 19. Jh. die großartigen Errungenschaften der osmanischen und postosmanischen Frauen- und Kinderrechtsbewegung verraten? Oder wie soll ich die Autortin verstehen? Mittlweile ist kein Argument zu dumm, um nicht für die "Westen-an-allem-Schuld"-Ideologie gebraucht zu werden.