Debatte Demagoge Sarrazin: Lob des Populismus
Provokateure wie Thilo Sarrazin sind gut für die Demokratie. Sie zwingen zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Ressentiments.
D ie Freiheit der Andersdenkenden hat so ihre Tücken. Bringt jemand wie Thilo Sarrazin seine Ansichten in stark zugespitzter Form vor, ist man schnell mit dem Vorwurf des Populismus zur Stelle. Mit seinem Buch wird der Wiederholungstäter den Erwartungen denn auch mehr als gerecht. Inhaltlich sind Sarrazins Vorstöße abstoßend, und mit seinen biologistischen Ansichten zur "Intelligenzvererbung" ist die Schwelle zum Rassismus überschritten. Die einseitig negative Sichtweise auf das Phänomen des Populismus ist dennoch falsch. Denn für die Demokratie kann Populismus an sich gleichwohl funktional und manchmal sogar ein Segen sein - gerade heute.
Die ideologische Angleichung der etablierten Parteien, ihre programmatische Loslösung von angestammten Wählermilieus und ihre Fixierung auf gesamtökonomische Ziele sind Entwicklungen, die in vielen westlichen Demokratien zu beobachten sind. Der Pragmatismus hat seinen Preis. Der Streit über unterschiedliche Werte - also über das, was Menschen unabhängig von der ökonomischen Bedürfnisbefriedigung bewegt und politische Gemeinwesen in ihrer natürlichen Pluralität ausmacht - lässt sich in dieses Koordinatensystem schlecht einordnen.
In Deutschland dominierte lange Zeit eine apolitische Konsenslogik. Auf die neoliberale "Hartz-IV-Phase" folgte der großkoalitionäre Staatsinterventionismus; beides wurde als unausweichliche Reaktion auf wirtschaftliche Zwänge dargestellt. Damit wurden zwei Grundpfeiler der politischen Auseinandersetzung aufgegeben: die Repräsentation von Wertekonflikten und der Gestaltungsanspruch von Politik. Auf beides reagiert der Populismus. Sein positiv gewendeter Tenor lautet: Es gibt Probleme, die bislang zu wenig bedacht wurden - und sie können politisch entschieden werden.
Markus Linden
ist Politikwissenschaftler an der Universität Trier. Zusammen mit Winfried Thaa gab er zuletzt den Band "Die politische Repräsentation von Fremden und Armen" heraus (Nomos, 2009).
Unterdrückte "Wahrheiten"?
In einer argumentative Debatte, die sich daraus entspinnt, lassen sich die Ansichten eines Thilo Sarrazin ebenso disqualifizieren wie der Chauvinismus eines Geert Wilders. Der bloße moralisierende Rückgriff auf die Vokabeln der Political Correctness hilft hingegen wenig. Wer sich auf den Vorwurf des Rassismus und des Populismus beschränkt, bestärkt für viele eher den Eindruck, hier spreche jemand unterdrückte "Wahrheiten" aus.
Zur argumentativen Auseinandersetzung bedarf es der Einsicht, dass es in der Politik kaum Wahrheiten gibt. Der Handlungsspielraum ist immer offen. Die Figur des prekariatsfeindlichen Sozialdemokraten (Sarrazin) oder des intellektuellen und homosexuellen Rechtspopulisten (Pim Fortuyn) bietet zudem wenig Angriffsfläche für eine Kritik, die sich nur überkommener Schubladen bedient. Häufig ist der Vorwurf des Populismus nicht mehr als ein stumpfer Ersatz für die alte Unterscheidung zwischen "guten" Demokraten und "bösen" Extremisten. Gruppenbezogenen Ressentiments in der Bevölkerung ist damit nicht beizukommen. Die allzu oft nonargumentative Selbstvergewisserung und Abgrenzungslogik der "politischen Klasse" ist vielmehr kontraproduktiv und kann bei vielen das Gefühl verstärken, es mit einem Machtkartell zu tun zu haben. Der Vorwurf des Rassismus, so berechtigt er im Fall Sarrazins auch sein mag, entbindet nicht von der Notwendigkeit, sich mit seinen empirischen Begründungen und Herleitungen auseinanderzusetzen.
Mäßigende Wirkung
Dagegen entfaltet die offene Auseinandersetzung mit vermeintlich populistischen Argumenten häufig eine mäßigende Wirkung. Ein Beispiel dafür ist die Unterschriftenkampagne der Union gegen den sogenannten Doppelpass und das neue Staatsbürgerschaftsrecht der rot-grünen Regierung im Jahr 1999. 5 Millionen Unterschriften führten dazu, dass das Thema im Bundestag konflikthaft und öffentlich debattiert wurde. Im Verlauf der Debatten wurden immer häufiger die Anliegen der Betroffenen selbst zur Rechtfertigung herangezogen: Das Argument, dass "Doppelpass-Migranten" gegenüber anderen Migranten privilegiert würden, war dabei eine Vorstufe der Abkehr der Partei von ihrer prinzipiell integrationsfeindlichen Position. Die öffentliche Auseinandersetzung über politische Streitfragen - seien es Moscheebauten, die Integrationspolitik oder Bildungsgutscheine für Hartz-IV-Empfänger - ist oft geradezu eine Grundvoraussetzung dafür, die Positionen von Minderheiten überhaupt erst ins allgemeine Bewusstsein zu bringen. In solchen Fällen erweist der Populist seiner eigenen Haltung oft einen Bärendienst, die Demokratie wird hingegen befördert.
Ein weiteres Beispiel ist der erfolglose Slogan "Kinder statt Inder", mit dem Jürgen Rüttgers im Jahr 2000 in Nordrhein-Westfalen seinen Wahlkampf bestritt. Fünf Jahre später wurde er auf anderem Wege Ministerpräsident, gerierte sich als Bewahrer des Sozialstaats und setzte mit Armin Laschet einen liberalen Modernisierer auf den Posten des Integrationsministers. Voraussetzung für diese Mäßigung war die vorangegangene öffentliche Debatte, die ihn später auf Polemik verzichten ließ.
Demokratie für alle
Der Populismus erhebt sich und politisiert die Gesellschaft. Wenn richtig auf ihn reagiert wird, schwindet aber auch seine Unterstützung in der Bevölkerung. Der Populist schafft quasi seine eigenen Grundlagen ab. Dieser Prozess ist natürlich kein Selbstläufer, wie die Beispiele erfolgreicher rechtspopulistischer Parteien in Österreich und den Niederlanden zeigen. Die Alternative - eine Entpolitisierung, die das Ökonomische zum entscheidenden Ausschlusskriterium werden und die Intoleranz geräuschlos glimmen lässt - ist indes wenig wünschenswert. Es gilt: Der argumentativ ausgetragene Konflikt bildet in der Demokratie die Conditio sine qua non, um Ansichten und Werthaltungen aller Betroffenen einzubinden.
Hinzu kommt, dass der Vorwurf des Populismus oft willkürlich und damit wirkungslos ist. Ist es populistisch, die Luftschläge der Nato gegen Serbien mit "Auschwitz" zu begründen, wie es Joschka Fischer als Außenminister getan hat? Oder in der Migrationsdebatte reflexhaft an die deutsche Vergangenheit zu erinnern? In jedem Fall befördert Sarrazins völkisch inspirierter Amoklauf die politisierte Diskussion. Und das ist gut so.
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