Debatte Austerität: Leider kein Weltkrieg
Die Atombombe verhindert die traditionelle Krisenlösung des Kapitalismus: Krieg. Deshalb muss halb Europa unter der Sparpolitik leiden.
![](https://taz.de/picture/180992/14/great_depression_1934.jpg)
V erdammte Atombombe! Ohne diese Marginalie der Geschichte hätten wir die globale Rezession schon längst hinter uns: Denn in der Vergangenheit bot ein schöner Weltkrieg immer den Ausweg aus einer Weltwirtschaftskrise – am unumstrittensten ist das wohl bei der Großen Depression, die sich nur durch den Zweiten Weltkrieg überwinden ließ.
Wenn von Krieg die Rede ist, denken wir verständlicherweise zunächst an die Opfer. Aus ökonomischer Perspektive jedoch sind die Millionen Toten zu vernachlässigen. Was zählt, ist die Vernichtung enormer Mengen von Gebäuden, Maschinen, Konsumartikeln – also von Kapital. Daraus folgt die Notwendigkeit einer neuen Akkumulation.
Dank sei dem Wiederaufbau! Das geht so weit, dass es die im Krieg am härtesten getroffenen Länder sind, die in der Nachkriegszeit die spektakulärsten Wirtschaftswunder feiern können. Sie überflügeln aufgrund ihrer neuen Produktionsanlagen die vom Krieg verschonten Länder. Ebendas meinte der Ökonom Joseph Schumpeter, als er von der „schöpferischen Zerstörung“ als kapitalistischem Grundprinzip sprach.
Nicht jeder Krieg allerdings ist geeignet: Der letzte im Irak etwa hat die USA Milliarden Dollar gekostet, aber der US-Wirtschaft keine positiven Impulse gegeben. Er führte nicht zu einer Anhebung der Produktion, es gab keine Mobilmachung der gesamten Bevölkerung, er hat vor allem nicht das Traumpaar jeder Kriegswirtschaft hervorgebracht: die Verbindung von unbegrenzten Ausgaben – für Waffen und anderes kriegswichtiges Material – auf der einen und Rationierung des Privatkonsums auf der anderen Seite.
geboren 1947, studierte Physik und war Schüler von Pierre Bourdieu. Nach 32 Jahren bei il manifesto hat er sich Ende November von der linken Tageszeitung verabschiedet - wie auch Gründungsmitglied Rossana Rossanda.
Krieg als Konjunkturspritze
Es ist tatsächlich der Krieg, der es den Regierungen erlaubt, das Diktat der Märkte zum Teufel zu jagen. Niemand kritisiert eine Regierung, die auf Sparsamkeit pfeift, wenn sie es tut, um das Vaterland zu verteidigen.
Aber wie gesagt – Krieg ist nicht gleich Krieg: Es müssen schon globale Gemetzel sein. Und diese Idee entstand eben mit dem Kapitalismus. Der erste war der „Siebenjährige Krieg“ (1756–1763), der über die Zukunft ganzer Kontinente entschied; Weltkriege führte auch Napoleon, die beiden großen Konflikte des vergangenen Jahrhunderts waren global.
Solche totalen Kriege zwischen Großmächten sind durch die Atombombe unführbar geworden sind. Der Kapitalismus ist seitdem ein Gefangener. Und diese Gefangenschaft wird umso quälender, je totalitärer die Diktatur der Märkte ist und je unerschütterlicher der Glaube an die erlösende Kraft der Austeritätspolitik wird.
Während des Kalten Krieges war „Realer Sozialismus“ ein sehr treffender Begriff, um die geistige wie materielle Diktatur in den Staaten des Warschauer Pakts zu beschreiben. Statt dessen, was der Begriff „Sozialismus“ einst an Vorstellungen hervorgerufen hatte – die Morgenröte, ja das Paradies –, verband man damit nun Mangelwirtschaft, Zensur und Überwachungsstaat. Der „reale Sozialismus“ bot keinen Ausweg an, keine Fluchtmöglichkeit. Man konnte ihn weder verändern noch sich ihm entziehen. Wenn ein Volk das anders sah, brachten es die Panzer der Bruderstaaten wieder auf Linie.
Realer Kapitalismus
Heute, nachdem der „reale Sozialismus“ weggefegt worden ist und jeder utopische beständig delegitimiert wird, will es die Ironie der Geschichte, dass wir uns auf einmal im „realen Kapitalismus“ wiederfinden. Auch wir sitzen wie Mäuse in der Falle, wir können nicht dem Spread entkommen und nicht den Zinsen; es findet sich kein noch so entferntes Exil, in das uns unsere Gläubiger nicht folgen würden, um uns ihre Rechnung zu präsentieren.
Ein Leben im Mangel: Die alten Griechen müssen ohne Renten auskommen, die jungen Spanier ohne Arbeit. Auch wir werden auf Linie gebracht, wenn wir rebellieren, von den „Bruderbanken“. Dass sie dazu keine Panzer brauchen, sondern nur Kontrolleure, ändert nichts daran: Auch wir befinden uns im Würgegriff einer totalitären Ideologie.
Es ist schon enorm, wie alle so tun, als glaubten sie tatsächlich an das Sparen, wo es doch nur der Strick ist, an dem wir uns aufhängen dürfen. Denn wenn Aberglaube darin besteht, dass man gegen alle Erfahrungswerte glaubt, dann ist Vertrauen in die austerity (man muss es einfach auf Englisch sagen!) dem Vertrauen gleichzusetzen, das Gläubige in Wundmale und Wundertaten setzen.
Was Brüssel und Frankfurt heute den Ländern Südeuropas vorschreiben, ist das Gleiche wie das, was Internationaler Währungsfonds und Weltbank den Ländern der Dritten Welt aufoktroyiert haben. Aber die Konzepte der Monetaristen haben kein Land aufblühen lassen, sondern marode, verarmte und sozial brutalisierte Gesellschaften geschaffen.
Blut-und-Tränen-Therapie
Dabei versteht jedes Kind: Ein Staat ist keine Familie. Eine Familie in finanziellen Nöten kann den Gürtel enger schnallen und entkommt so vielleicht ihrer Notlage. Wenn aber in einem Staat alle den Gürtel enger schnallen, dann konsumiert niemand, brechen Produktion und Verkauf ebenso ein wie die Steuereinnahmen des Staates – genau das, was in Griechenland passiert, wo durch die Blut-und-Tränen-Therapie das Defizit nicht abgebaut worden ist, sondern zugenommen hat. Und in Italien geschieht gerade das Gleiche.
Der Ritus der austerity, zu dem wir von Deutschland und den Börsen zwangsbekehrt werden sollen, entspricht den Selbstgeißelungen bei mittelalterlichen Prozessionen; mit dem Unterschied, dass die Flagellanten vielleicht wirklich ins Paradies einzogen (das Gegenteil kann jedenfalls niemand beweisen), während wir in Italien von einer wirtschaftlichen Erholung nur träumen dürfen, nicht zuletzt, weil Premier Mario Monti als früherer Goldman-Sachs-Manager ein Hohepriester der Sparsamkeitsideologie ist.
Schlimmer ist, dass auch viele auf der Linken dem Aberglauben verfallen sind. Schlimmer nicht deswegen, weil sie aus ihren Träumen irgendwann unter Schmerzen erwachen werden; sondern weil ihre Träume uns allen solche Schmerzen bereiten.
Übersetzung aus dem Italienischen von Ambros Waibel
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