Debatte Arbeitslosengeld I: Schröder hat recht
Die Agenda 2010 ist Teil des Aufschwungs. Die SPD muss zu ihrer Reformpolitik stehen - und begreifen, dass die Republik der 70er und 80er nicht zurückkehrt.
E s ist bizarr: Als der spätere SPD-Chef Gerhard Schröder Kanzler wurde, verkündete er, er wolle sich an seinem Erfolg messen lassen, die Arbeitslosigkeit zu senken. Und zwar auf 3,5 Millionen. Zwei Legislaturperioden lang flog ihm dieser Satz als manischer Anflug eines Größenwahnsinnigen um die Ohren - denn die Arbeitslosigkeit nahm beinahe stetig zu. Jetzt endlich die gute Nachricht: Die Zahl der Arbeitslosen geht zurück - bis auf 3,5 Millionen. Schröder stünde als strahlender Sieger da, wäre er noch Kanzler.
Katharina Koufen ist seit 1999 taz-Redakteurin und arbeitet im Parlamentsbüro der taz.
Und was macht die SPD? Anstatt sich mit diesem Erfolg zu schmücken, anstatt zu kommunizieren: Unsere Politik des Verzichts hat sich gelohnt, die Arbeitslosigkeit nimmt ab, die Wirtschaft wächst!, schwillt bei den Sozialdemokraten ein Chor, der die Reformen am liebsten rückgängig machen würde.
Vielleicht hatten Schröders Genossen damals gut bezahlte Nine-to-five-Jobs mit Urlaubs- und Weihnachtsgeld vor Augen und sind nun enttäuscht, dass ein Großteil der neuen Jobs von diesem Ideal aus der Zeit der alten Bundesrepublik so weit entfernt ist. Vielleicht schmerzt viele SPDler die Erkenntnis, dass solche Jobs in Zeiten der Globalisierung und der Konkurrenz billiger Arbeitskräfte im Ausland viel schwieriger zu schaffen sind als früher. Und es hat ja auch eine gewisse Tragik, dass ausgerechnet die SPD Reformen verabschiedet, die dem Ausbau des Niedriglohnsektors Vorschub leisteten: weil sie den Druck auf die Arbeitslosen erhöhten, auch schlechtbezahlte Jobs anzunehmen, und weil die Arbeitgeber diesen Druck für Lohnsenkungen nutzen konnten.
Aber: Joschka Fischer hat sich mitnichten, wie Ulrike Hermann im Contra-Kommentar behauptet, auf eine "besonders krasse These" versteift - er hat völlig recht, wenn er im Spiegel-Interview sagt: "In der Wirtschaft stiegen die Staatsverschuldung und die Arbeitslosigkeit. Zudem hatte Deutschland massiv gegenüber unseren wichtigensten Wettbewerbern verloren. Es musste etwas geschehen." Fast drei Jahrzehnte lang wurde die Arbeitslosigkeit als Randproblem behandelt. Zuerst war es ja wirklich nur ein kleiner Prozentsatz, der keinen Job hatte. Man stellte diese Minderheit ruhig, indem man sie einigermaßen alimentierte - und hoffte bei jedem Aufschwung, das Problem werde sich von selbst lösen. Doch in der Regierungszeit Schröders wuchs die Arbeitslosigkeit auf über 12 Prozent. Mittlerweile existierte eine "zweite Generation" von Sozialhilfeempfängern, die nie aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt verdient hatte.
Bei Schröder und seinen Beratern wuchs die Erkenntnis, dass die Haltung des "alimentierenden Ignorierens" unsozial ist. Und dass ein Teil dieser Langzeitarbeitslosen, vor allem die schlecht ausgebildeten, in absehbarer Zeit keine Chance auf einen gut bezahlten und dauerhaften Job haben würde - weil einfache Tätigkeiten durch Maschinen ersetzt oder nach China ausgelagert worden waren. Also war es richtig, diesen Menschen einerseits die Möglichkeit der Fortbildung ("Fördern") zu bieten, andererseits mehr Druck auszuüben ("Fordern").
Natürlich muss nachgebessert werden, etwa bei der Hinzuverdienst-Grenze. Doch die momentane Debatte in der SPD ist Quatsch: Erstens ist nicht einzusehen, warum ausgerechnet diejenigen, die ohnehin schon das Privileg einer jahrelangen sozialversicherungpflichtigen Beschäftigung hatten, länger ALG I erhalten sollen. Zweitens würde dies der unseligen Praxis der Frühverrentung Anschub geben und den Staat viel Geld kosten.
Die SPD sollte zur Reformpolitik ihres Exchefs stehen. Sie muss begreifen, dass die überschaubare, abgeriegelte Bundesrepublik der 70er- und 80er-Jahre nicht wiederkehrt. Sie sollte stattdessen kluge Gedanken weiterentwickeln - etwa das Konzept des vorsorgenden Sozialstaats. Anders als der Becksche Vorschlag ist dies eine Idee, die nach vorne weist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen