Debatte Arabische Revolution: Die Türkei ist kein Vorbild
Die Türkei wird jetzt als Vorbild für die arabische Welt gehandelt. Aber die Ägypter haben Besseres verdient als weichgespülte Muslimbrüder.
W as folgt aus der arabischen Revolution? Was wird aus Libyen, was aus dem US-Flugzeugträger Bahrain? Nach dem Triumph der Protestbewegungen in Ägypten und Tunesien müssen dort neue Strukturen entwickelt werden, damit ein demokratischer Machttransfer überhaupt stattfinden kann. Erst wenn dieser mühsame und überaus gefährliche Prozess erfolgreich abgeschlossen ist, werden wir wissen, ob man von einer geglückten Revolution sprechen kann.
Vielfach wird den Menschen im Nahen Osten derzeit empfohlen, sich die Türkei zum Vorbild zu nehmen. Das scheint auf den ersten Blick plausibel. Gemessen an den Maßstäben des Nahen Ostens, ist die Türkei eine funktionierende Demokratie und ein Rechtsstaat. Das Land besitzt eine säkulare Verfassung, erprobte Institutionen und kann auf eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung zumindest in den letzten zehn Jahren verweisen. Und: Ihre Bewohner sind zu 98 Prozent Muslime.
Darüber hinaus wird die Türkei von einer islamischen Partei regiert. Die AKP von Tayyip Erdogan ist eine Partei, die versucht hat, die Türkei in die EU zu bringen, und diesen Versuch bis heute - zumindest offiziell - noch nicht aufgegeben hat und die es geschafft hat, das Militär in die Schranken seiner Kasernen zu verweisen.
Das ist mit Blick auf Ägypten besonders wichtig. Denn die größte Gefahr, die der demokratische Revolte dort droht, ist, dass das Militär die Macht, die es jetzt allein innehat, nicht wieder aus der Hand gibt.
Wie man das Militär einhegt
Jürgen Gottschlich, ist taz-Korrespondent für die Türkei und lebt in Istanbul. 2008 erschien sein Buch "Türkei – ein Land jenseits der Klischees" und 2010 "Der Bibeljäger. Die abenteuerliche Suche nach der Urfassung des Neuen Testaments" (beide Ch. Links Verlag).
Genau betrachtet, besteht die Vorbildfunktion der Türkei also darin, dass sie nicht einfach nur eine Demokratie ist, sondern eine muslimische Regierung besitzt, die eine jahrzehntelang dominierende Armee zurechtgestutzt hat und das Primat der Politik vor dem Militär durchsetzen konnte. Das ist nicht wenig. Trotzdem kann man die ägyptischen und tunesischen Demokraten nur davor warnen, dem Vorbild Türkei zu folgen. Denn tatsächlich sind sie der Zeit im Vergleich zur Türkei weit voraus.
Die revoltierenden Menschen in Arabien haben etwas geschafft, was ihnen weltweit niemand zugetraut hätte und auch die Türken nie zustande gebracht haben: Sie haben sich erfolgreich gegen einen Diktator und ein despotisches System erhoben. Die Menschen auf dem Tahrir-Platz in Kairo haben eine Stunde null eingeläutet, mit der in Ägypten eine neue Zeitrechnung beginnt.
Für den Übergang zur Demokratie haben sie es gar nicht nötig, sich an der Türkei zu orientieren. Denn auch wenn die Menschen in Ägypten mehrheitlich Muslime sind - Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und soziale Rechte sind universelle Werte, Werte, für die die Menschen in Ägypten gekämpft haben und die keines muslimischen, christlichen, buddhistischen oder anderen religiösen Vorzeichens bedürfen.
Man sollte deshalb die Unterschiede zwischen der Türkei und den arabischen Ländern beachten. Die Erfolgsgeschichte der türkischen AKP begann in einem Land, das am Boden lag und in dem die Mehrheit der Menschen völlig demoralisiert war.
Gut zwei Jahre vor der demokratischen Machtergreifung der AKP, 1999, war das Land von einem schweren Erdbeben getroffen worden, das fast 50.000 Todesopfer forderte und rund um das Marmarameer den industriellen Kern des Landes teilweise zerstörte. Nicht zuletzt dieses Erdbeben war mitverantwortlich für die schwerste Wirtschaftskrise seit ihrer Gründung, die die türkische Republik 2001 erlebte.
Vom Erdbeben erschüttert
Bei den Wahlen 2002 wurden all jene Parteien und Politiker, die es nicht geschafft hatten, auf das Erdbebenfolgen angemessen zu reagieren, und das Land anschließend in die Wirtschaftskrise geführt hatten, abgewählt - keine der damals im Parlament vertretenen Parteien überlebte die Wahl.
Stattdessen kam die AKP, weil sie eine Antisystempartei war, nicht zum Politklüngel gehörte, entsprechend als nicht korrupt galt und mit Tayyip Erdogan einen charismatischen Führer besaß. Dass die AKP ursprünglich dem politischen Islam entstammte, war allen Umfragen nach nur für den kleineren Teil ihrer Anhänger ein Grund, sie zu wählen. Die Mehrheit wählte sie aus Verzweiflung über den Mangel an Alternativen und nahm dabei den islamischen Background mehr oder weniger notgedrungen in Kauf.
Keine Putschgefahr mehr
Die AKP war zwar von Beginn an den Angriffen des Militärs und ihm nahestehender Kreise ausgesetzt. Doch eine echte Putschgefahr, wie die Partei sie immer wieder beschwor, gab es nie. Ein Putsch wäre einfach nicht mehr möglich gewesen.
Die Türkei hing völlig am internationalen Tropf, während ihre Wirtschaft in die globalisierte Ökonomie integriert war. Vor allem aber hätten die USA und die EU, anders als beim Putsch 1980, die Putschgeneräle nicht mehr unterstützt.
Der Kalte Krieg war vorbei, eine Militärdiktatur hätte keinerlei internationale Unterstützung gehabt, der IWF hätte keinen Kredit mehr gegeben, und das Land wäre innerhalb weniger Wochen pleite gewesen. Das wusste der Generalstab, weswegen er Putschpläne unterer Ränge nicht mehr unterstützte, und das wusste die AKP-Spitze.
Der Kampf der AKP ist vor allem der Kampf einer neuen, islamischen Elite gegen die alten Eliten der Republik. Wenn es stimmt, dass Freiheit auch immer die Freiheit des Andersdenkenden ist, dann spielt Freiheit in dieser Auseinandersetzung nur eine sehr geringe Rolle.
Den Menschen in Ägypten wird die AKP nicht aus demokratischen, freiheitlichen Erwägungen als Vorbild empfohlen, sondern weil sie aus Sicht der USA und einiger europäischer Vordenker im Vergleich zu einer islamisch-fundamentalistischen Strömung das kleinere Übel darstellt.
Da die USA selbst nicht mehr darauf hoffen können, selbst im Nahen Osten als Vorbild gesehen zu werden, geht es nach Auffassung der außenpolitischen Strategen jetzt darum, das Modell Erdogan gegen das Modell Chomeini zu propagieren.
Warum aber die kostbare Stunde null an ein kleineres Übel verschwenden? Die Demokraten vom Tahrir-Platz haben etwas Besseres verdient als eine weichgespülte Variante der Muslimbrüder.
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